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Die zwei Gesichter der europäischen Geschichte

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Der Festakt in Moskau anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes aus polnischer Sicht
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Der Autor dieses Essays, Jan Topolski, kommt aus Warschau und ist derzeit Praktikant bei der neuen musikzeitung. Der junge polnische Musikwissenschaftler ist Chefredakteur der neugegründeten polnischen Musikzeitschrift „Glissando“ und zur Zeit Stipendiat des Siemens Art Programm und des Deutschen Musikrates.

Am 8. Mai 1945 war das Ende des Zweiten Weltkrieges. Na ja, erst am 9. Mai hat ein russischer General von höherem Rang die deutsche Kapitulation unterschrieben. Aber was ist eigentlich mit dem 4. Juni 1989? Für viele Polen, die an diesem Tag den ersten demokratischen Präsidenten nach dem Krieg gewählt haben, und auch für viele andere Völker, die nach 1945 in den sowjetischen Herrschaftsbereich geraten waren, ist der vierte Juni mindestens so einschneidend wie der 8. Mai 1945. Europa hat nicht nur eine einzige Geschichte und nicht alle Feiertage sind überall von gleicher Bedeutung. Ein Teil des Kontinents wurde 1943 in Teheran und dann 1945 in Jalta und Potsdam zwischen den Siegermächten Großbritannien, USA und der UdSSR aufgeteilt. Das sollte nicht vergessen werden: Der sechzigste Jahrestag des Kriegsendes hat das auch den Westeuropäern klar gemacht.

In Polen gab es zum 8. Mai natürlich ein paar Feierlichkeiten: Etwa in Breslau, wo Präsident Aleksander Kwasniewski, Stadtpräsident Roman Dutkiewicz und der ehemalige Emigrationsstaatspräsident Ryszard Kaczorowski an einem Festakt am Samstag, 7. Mai, teilnahmen. Die Stadt Breslau hat hier Symbolcharakter für Zerstörung und Aussiedlung: Hier ergaben sich die deutschen Besatzer erst am 6. Mai 1945. Es wurde eine Ausstellung „Breslau 1945-2005” eröffnet, und es gab ökumenische Gebete auf dem Friedhof der Opfer vom September 1939, der als Hügelgrab auf den zerstörten Gebäuden aufgebaut worden war. Am Grab des Unbekannten Soldaten in Warschau ehrten Premier Marek Belka, Sejmpräsident Longin Pastusiak, Vertreter aller Waffengattungen, Veteranen, Diplomaten und Pfadfinder die Opfer des Krieges. Ungenügende Information der Öffentlichkeit und schlechtes Wetter wurden als Grund für auffallend geringe Teilnahme der Warschauer Bürger genannt. Auf der Westerplatte, wo die ersten Salven vom Panzerschiff Schleswig-Holstein den Kriegsbeginn symbolisierten, gedachten der Erzbischof von Danzig Taduesz Goclowski, Sejmvizepräsident Donald Tusk und der deutsche Kriegsmarineinspekteur Lutz Feldt dem Kriegsende. Nach der Feier wurde das patriotische Lied „Warszawianka“ gesungen.

Während sich die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland recht früh nach dem Krieg normalisiert hatten, blieb das Verhältnis mit Russland kompliziert. Russland hat nie offen den Ribbentrop-Molotov Vertrag bedauert, sich weder für den Überfall auf Polen am 17. September 1939 schuldig bekannt, noch für die Okkupation der baltischen Länder. Russland hatte nie die Ermordung von über 22.000 polnischen Offizieren in Katyn zugegeben sowie sich nie für Gräueltaten des Stalin-Regimes (über 20 Millionen Menschen allein in der UdSSR!) entschuldigt.

Aus diesen Gründen protestierten bereits vor der Abfahrt von Kwasniewski zur Moskauer Gedenkfeier am Montag, 9. Mai, viele Leute dagegen mit einer Art von „Antifeiern“. Zum Beispiel verkleideten sich junge Teilnehmer von Platforma Obywatelska (Bürgerliche Plattform, laut Umfragen die größte Partei vor den Parlamentswahl, konservative-rechte Partei) als deutsche und russische Truppen und inszenierten ein gemeinsames Defilee in Brzesz vom 22. September 1939. Und die Jungen von Prawo i Sprawiedliwosc (Recht und Gerechtigkeit, zweite Partei laut Umfragen, rechter Flügel) schenkten in Krakau Fußgängern die Kwasniewski-Bahnkarte ohne Rückfahrt. Während der Moskauer Feiern demonstrierte eine kleine Gruppe des Katynkomittees vor der russischen Botschaft in Warschau mit Fotos der Ermordeten und Plakaten „Aufklären Katyn!“.

Ein echter Sturm der Entrüstung tobte über ganz Polen, nachdem Präsident Putin in seiner Rede nichts über Polen und seine Rolle beim Sieg über die Nazis erwähnt hatte, obwohl er neben den vier Siegermächten eine kleine Gruppe von Antinazis in Deutschland und Antifaschisten in Italien genannt hatte (und das, obwohl Frankreich weniger Truppen als Polen gehabt hatte und kaum Widerstand leistete). Es war aber Polen gewesen, das am längsten gegen Hitler gekämpft hat (vom 1. September 1939 bis 8. September 1945 und am meisten – im Verhältnis zu der Bevölkerungszahl – Menschen verloren hat (6 Millionen Opfer).

Fast alle polnischen Politiker verurteilten diese Rede, ein Teil auch die Fahrt Kwasniewskis nach Moskau – im Gegensatz zu ihm belegten alle drei Präsidenten der baltischen Länder die Moskauer Feierlichkeiten mit Boykott. Die Beurteilungen reichten von „peinlich und demütigend“ (Donald Tusk, Sejmvizepräsident, Vorsitzender von PO und Kandidat für das Präsidentenamt), über „irrtümlich“ und „falsch“ (Andrzej Lepper, Vorsitzender der linksradikalen Samoobrona, Selbstverteidigung, auch ein Kandidat), bis zu „schockierend“ und „unwahr“ (Tadeusz Mazowiecki, erster postkommunistischer Premier), „beleidigend“ und „geringschätzig“ (Lech Kaczynski, Vorsitzender von PiS, auch ein Präsidentschaftskandidat), auch Vertreter des Veteranenverbundes und Katyn-Komitees erklärten diese Rede für einen Affront und die Defilee in Moskau für „ein Schauspiel der Verlogenheit“. Nach der späteren Zeitungsumfrage in „Gazeta Wyborcza“ denken 55 Prozent der Polen ähnlich und nur 30 Prozent halten die Moskauer Feier nicht für eine Demütigung Polens. Nicht überrascht waren nur der ehemalige Präsident und legendäre Solidarnosc Vorsitzender, Lech Walesa, sowie Professor Norman Davies, die in der Rede Putins ein Zeichen von sowjetischem, imperialistischem Denken sahen.

Selbstverständlich verteidigte Kwasniewski sich am Dienstag nach seiner Rückkehr nach Warschau (er hatte doch die Rückfahrkarte). Auf der Pressekonferenz sagte er, dass Putin viel in kurzer Zeit zu sagen hatte, dass er sich an der russischen Öffentlichkeit orientiert hatte und dass außerdem er, Kwasniewski, polnische Friedhöfe besucht hatte, und sich mit russischen Veteranen und Forschern des Memorial Instituts (das nach russischen Verbrechen forscht) getroffen hatte. Wofür sich allerdings russische Medien nicht besonders interessierten. Auch Außenminister Daniel Rotfeld bestand darauf, dass diese Fahrt nötig gewesen war und verteidigte Putin, auch wegen seiner Worte zum Widerstand, die er speziell an die Regierungspolitiker Deutschlands und Italiens richtete. Marek Borowski (der Vorsitzende von Socjaldemokracja Polska, Polnische Sozialdemokratie, auch ein Kandidat für das Präsidentenamt), schlug vor, ein Institut für Historische Wahrheit neben der polnischen Botschaft in Moskau zu errichten und ein Forum der Ost-Politik im Rahmen der EU zu bauen. Aber am wichtigsten scheinen zwei andere Resolutionen und Reden zu sein. Erstens, was Rotfeld auf der Versammlung der Vereinten Nationen in New York gesagt hat – dass nicht für alle der 8. beziehungsweise 9. Mai das Kriegsende bedeutete, dass es auch eine zweite, nicht weniger wichtige europäische Geschichtsentwicklung gab. Am Donnerstag, den 12. Mai, verabschiedete das Europäische Parlament eine wesentliche Resolution, die davon handelt, dass „für einige Nationen das Ende des Zweiten Weltkrieges eine nächste, von der stalinistischen Sowjetischen Union aufgedrängte, Tyrannei bedeutete“ und dass das Europäische Parlament sich „bewusst von der Größe der Leiden, Ungerechtigkeit und langwierigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Degradierung, die die gefangenen Nationen auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs empfunden haben.“

Auf diese Worte aus Westeuropa wurde sehr lange gewartet. Obwohl es auch hier nichts über den Ribbentrop-Molotov-Vertrag und die Hitler-Stalin-Kollaboration gab (um Russen nicht zu reizen, wie französische Kommunisten und Sozialisten ehrlich sagten), ist das doch zweifellos ein großer Erfolg der neuen EU-Länder, deren Vertreter an diesem Tag acht von insgesamt 16 Reden gehalten haben (vier davon von Polen). Aber dieser „Krieg um Erinnerung“ ist noch zu gewinnen, wie die letzte Presseaffäre in Großbritannien, Frankreich, aber auch in Deutschland (Bild, Der Spiegel) zeigte, wo über „polnische Konzentrationslager“ berichtet wurde. Dieser „Krieg“ um die wahre Bewertung der Stalin- und UdSSR-Ära wird in nächster Zeit vor allem mit Russland geführt werden. Hoffen wir, dass er weder „heiß“ noch „kalt“, sondern ein partnerschaftliches Gespräch wird.

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