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Dispokinesis-Lehrgang in Hildesheim

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Eine Gruppe von Musikern bereitet sich zur Zeit auf den Abschluss des Dispokinesis-Lehrgangs in Hildesheim vor. Die Europäische Gesellschaft für Dispokinesis (EGD) e.V. besteht seit 1993 und führt seit 1997 eine Zusatzausbildung für Musiker durch. Die Zielgruppe sind Berufsmusiker sowie Physiotherapeuten, Ärzte, Psychologen, die über nachweislich ausreichende Erfahrung auf mindestens einem Instrument verfügen und sich als Lehrer für diese Arbeit qualifizieren möchten.

Die Dispokinesis („disponere“ = freies Verfügen über „kinesis“ = Bewegung) ist eine speziell für Musiker entwickelte Körperarbeit des niederländischen Musikers und Physiotherapeuten Gerrit Onne van de Klashorst. (1927- 2017). Seine Erfahrungen und sein Wissen als Musiker und Mediziner ließen ihn erkennen, wie speziell die Bedürfnisse und die Anforderungen an Musiker sind, was den Gebrauch des eigenen Körpers am Instrument beziehungsweise beim Singen betrifft.

Technische Höchstleistungen, feinste Koordination, Hören, Ausdrucksfähigkeit und Bühnenpräsenz sind Voraussetzungen, die für ein erfolgreiches und erfüllendes Musizieren von großer Bedeutung sind. Auf dem Weg dorthin erleben viele Musiker, dass unter anderm durch den hohen Übeeinsatz ungünstige Haltungen und Spielbewegungen entstehen können, welche zu Verspannungen, Schmerzen, Überlastungssymp­tomen und damit zu Hemmungen im Ausdruck und bei Auftritten führen. Diese können den Alltag eines Musikers enorm beeinträchtigen und damit seine berufliche Existenz gefährden, bis hin zur Spielunfähigkeit, wie zum Beispiel bei der fokalen Dystonie.

In vielen Fällen ist eine akute medizinische Behandlung durch Ärzte und Physiotherapeuten unumgänglich. Die Dispokinesis ermöglicht es, solche Probleme nachhaltig und effektiv zu lösen. Stereotype Bewegungsmuster werden bewusst gemacht und anhand spezieller Übungen gezielt und feindosiert in Richtung Stabilität und Leichtigkeit verändert. So wird ein Prozess eingeleitet, der Freiheit im Instrumentalspiel oder Singen neu ermöglicht.

Im Mittelpunkt steht die Arbeit mit den sogenannten Urgestalten. Dies sind Grundübungen in verschiedenen Körperpositionen ohne Instrument, in denen  Entwicklungsschritte bis hin zu einer disponierten Aufrichtung durchlaufen werden. Im Verlauf kommen Übungen zur Feinmotorik und Atmung sowie Funktion und Anpassung von ergonomischen Hilfsmitteln hinzu.

Die Teilnehmer des aktuell in Hildesheim durchgeführten Lehrgangs, geleitet von Melanie Mehring, finden sich einmal im Monat zu einem intensiven Ausbildungswochenende zusammen. Es sind Musiker aller Instrumente, die aus ganz Deutschland und auch anderen Ländern, zum Beispiel Luxemburg und Österreich, zusammenkommen und in Kürze ihr Zertifikat nach dem 3. Lehrgangsjahr erhalten.

Das erste Ausbildungsjahr dient vor allem der Auseinandersetzung mit der eigenen Disposition. Die Teilnehmer erhalten außerdem Unterricht in funktioneller Anatomie und beschäftigen sich mit Grundlagen der Neurophysiologie, Lernpsychologie und Psychomotorik, welche die Arbeit ergänzen.

Im zweiten Lehrgangsjahr stellen Dozenten der einzelnen Instrumente deren Grundprinzipien von Haltung und Bewegung vor. Diese werden von allen Telnehmern praktisch erfahren. Die Auszubildenden lernen das Anleiten der Urgestalten, das genaue Beobachten, Erkennen und Analysieren eines Bewegungsproblems in der Arbeit mit Probanden, die zum Lehrgang eingeladen werden. Dies wird in anschließender Supervision reflektiert.

Am Ende des zweiten Jahres erhalten die Teilnehmer nach bestandener Prüfung das Zertifikat „Dispokineter für das eigene Instrument“, nach einem weiteren dritten Jahr erhalten sie dann wiederum nach einer Prüfung das Zertifikat,  Musikern aller Instrumente Dispokinesis-Unterricht erteilen zu können. Das bedeutet, dass beispielsweise Streicher auch eine Fehlhaltung des Daumens bei einem Klarinettisten erkennen lernen, oder dass Pianisten auch Schulterstützen für Geiger anpassen müssen und so weiter.

Im Austausch mit den Auszubildenden wird deutlich, wie sich im Laufe der drei Jahre die Perspektive auf das eigene Musizieren, auf die Arbeit mit den Schülern und den Klienten verändert und den eigenen Horizont geweitet hat. Oftmals sind es zunächst persönliche Erlebnisse in der beruflichen Laufbahn, die die Motivation wecken, sich mit Dispokinesis auseinanderzusetzen. Auf der Suche nach Lösungen für Schmerzen, Verkrampfungen oder Bandscheibenvorfälle durch Überbelastung haben viele der Teilnehmer in ihrem Studium keine Antworten darauf gefunden, wie sie Fehlbelastungen dauerhaft vermeiden können.

Über die Dispokinesis bekamen sie Gelegenheit, neue Erfahrungen mit dem eigenen Körper zu machen, Bewegungsmöglichkeiten für sich neu zu entdecken, Natürlichkeit und Leichtigkeit beim Spielen wiederzufinden. Dispokinesis leitet den Menschen an, seine individuelle Lösung, eine passende Antwort seines Körpers aus sich selbst heraus zu entdecken. Diese Erfahrung ist tiefgehender, ursprünglicher und zuverlässiger, als sich an eine starre, festgelegte Regel anpassen zu müssen, die nicht für jeden gleichermaßen funktioniert.

Hilfe zur Selbsthilfe, subtile Schulung der Körperwahrnehmung und Vertrauen in das eigene Gefühl sind wesentliche Punkte, welche die Teilnehmer im Laufe des Lehrgangs an sich und den anderen erleben. Das persönlich Erfahrene, verbunden mit fundiertem Hintergrundwissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen, befähigt und beflügelt den Dispokineter, dies an andere Menschen weiterzugeben und mit feinem Einfühlungsvermögen jeden neuen Klienten individuell zu begleiten. Es ist eine Schule des tiefen Hineinspürens in sich und andere.

Die Befähigung, einem Musiker aus einer Sackgasse zu helfen, ihn selbstständig einen neuen Weg für seinen Beruf  finden zu lassen, ist eine anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe.

Die dispokinetische Arbeit hat auch Einfluss auf andere Lebensbereiche außerhalb der Musik, sowohl  auf der körperlichen, als auch auf der geistig-emotionalen Ebene. Durch diese intensiven Erfahrungen und dank der engagierten Arbeit der Dozenten ist die Gruppe im Laufe der Ausbildung zu einer wunderbaren Gemeinschaft zusammengewachsen. Im Mittelpunkt der Dispokinesis steht immer die musikalische Arbeit. Schüler und Lehrer gestalten miteinander einen Weg, der ein freies Musizieren zum Ziel hat. Die Liebe zur Musik, der Dialog zwischen Musikern und ihrem Instrument und die Möglichkeit, musikalischen Ausdruck entsprechend der eigenen Persönlichkeiten zeigen zu können, ist für Lehrer und Schüler ein großes Geschenk und die primäre Aufgabe. Aufgrund der Corona-Pandemie musste der letzte Abschnitt des Lehrgangs auf den Herbst 2020 verschoben werden. Ein neuer Lehrgang beginnt  im Januar 2021. Plätze dafür sind noch frei. Ein Infotag dazu am 16. Mai in Hildesheim wird nach jetzigem Stand stattfinden. Voraussetzung für die Teilnahme am Lehrgang ist eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Disposition. Diese sollte mindestens sechs Monate vor Lehrgangsbeginn durch Unterricht bei einem erfahrenen Dispokinesis- Lehrer erfolgen.


Weitere Infos zur Anmeldung erhalten Interessierte bei den Lehrgangsleiterinnen Melanie Mehring und Nora Niggeling-Neumann unter: ausbildung [at] dispokinesis.de (ausbildung[at]dispokinesis[dot]de) und unter: www.dispokinesis.de.
Musiker, die Hilfe für ihr Instrumentalspiel suchen, können sich auf der Internetseite der EGD über die Mitgliederliste informieren und einen Dispokinesis-Lehrer kontaktieren.

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