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Einblicke in prä- und postnatale Entwicklungen

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Vorträge und Workshops rund um das Thema „Musik und Menschen mit Behinderung“
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Merkt, Irmgard (Hg.): Ein Lied für Christina (InTakt Dortmunder Schriftenreihe Musik und Menschen mit Behinderung Bd. 1, hrsg. von I. Merkt), ConBrio-Verlag, Regensburg 2000

Merkt, Irmgard (Hg.): Ein Lied für Christina (InTakt Dortmunder Schriftenreihe Musik und Menschen mit Behinderung Bd. 1, hrsg. von I. Merkt), ConBrio-Verlag, Regensburg 2000InTakt ist eine bundesweite Weiterbildungsveranstaltung an der Universität Dortmund, die sich in einem Zwei-Jahres-Rhythmus mit dem Themenkreis „Musik und Menschen mit Behinderung“ befasst. Der hier vorliegende Band fasst die Vorträge und einige Workshops der ersten Tagung aus dem Jahr 1998 zusammen. Was die Autorinnen und Autoren über ihre Beiträge hinaus verbindet, ist „ein spezieller Blick auf Menschen mit Behinderungen“ (S. 9), der geprägt ist von einem praktischen Engagement in der Arbeit und Weiterbildung mit behinderten und nichtbehinderten Kindern.

In ihrem ersten Beitrag „AufTakt“ äußert sich Merkt zum theoretischen Bezugsrahmen, der der konkreten praktischen Arbeit zu Grunde liegt. Dazu gehört in erster Linie ein Verständnis darüber, was man als Behinderung bezeichnet. Merkt folgt hier dem Ansatz Cloerkes (Cloerkes, G.: Soziologie der Behinderten- Eine Einführung, Heidelberg 1997), der in Anlehnung an eine Formulierung der WHO aus dem Jahre 1980 drei Ebenen der Behinderung unterscheidet. Auf Grund einer Schädigung des Organismus (Ebene 1) kommt es zu einer Störung in der Entfaltung der Persönlichkeit (Ebene 2), die eine Benachteiligung auf der sozialen Ebene (Ebene 3) zur Folge hat.

Behinderung wird also letztlich als gesellschaftliches Produkt verstanden. „Ein Behinderter“, so Cloerkes, „ist ein Mensch, der erstens eine entschieden negativ bewertete Andersartigkeit hat und der deshalb zweitens ungünstige soziale Reaktionen auf sich zieht.“ Musik nun „kann einen Beitrag dazu leisten, den Menschen mit Schädigung auf der personalen Ebene in seiner Entwicklung zu unterstützen“ (S. 10), das heißt einen Beitrag leisten zur Entfaltung der Persönlichkeit. Darüber hinaus geht es aber auch darum, über die gleichberechtigte Teilhabe an der Musik-Kultur die oben angesprochene soziale Benachteiligung zumindest zu mindern, das heißt es geht um Integration und um Unterstützung bei der Entwicklung der kulturellen Vorliebe, hier der Musik. In diesem Zusammenhang wird bewusst auf den Therapie-Begriff zu Gunsten der Betonung des Pädagogik-Begriffs verzichtet.

In ihrem zweiten Beitrag „Ein Lied für Christina“ gibt Merkt einen kurzen, aber sehr einfühlsamen Einblick in die prä- und postnatale Entwicklung eines Menschen, deren Weg sie mit den Begriffen Lauthülle, Lautspiegel und Lautgestaltung umschreibt. Was bei nichtbehinderten Kindern als „normale“ Entwicklung vor sich geht, bedarf im Fall eines behinderten Kindes intensiver Begleitung und damit ständiger Selbst-Reflexion des Begleiters. Der Weg hier lautet: eine Lauthülle schaffen, Lautspiegelung geben und Lautgestaltung ermöglichen. Ziel ist eine Verführung zur Musik durch Musik und eine Förderung der Lebensfreude mit Musik.

Die in Franz Amrheins Beitrag angesprochene „Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsförderung mit Musik“ stellt für ihn selbst den Grundriss eines Konzepts „Musik mit Menschen mit Behinderungen“ dar (Amrhein 2000, S. 25). Das Konzept, das sich als Weiterentwicklung und Konkretisierung der von Werner Probst vor etwa 30 Jahren entwickelten Pädagogischen Musiktherapie versteht und das auf Erfahrungen der letzten 20 Jahre aufbaut, gliedert sich in fünf Schritte. In einem ersten Schritt, den Amrhein „subjektive und objektive Realität“ nennt, geht es sowohl um die Erschließung musikalischer Fähigkeiten und Bedürfnisse der Schüler (subjektive Seite) als auch um den Aspekt der musikalischen Förderung (objektive Seite). Grundgedanke ist ein so genannter Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik – weg von der Defizitorientierung hin zur Betonung der Entwicklungs- und Fördermöglichkeiten – und ein Wandel in der Sichtweise der Musikpädagogik, den Schüler erst zu sich selbst, dann in die musikalische Kultur (ein-) zu führen. Dieser Weg, und das ist der zweite Schritt, führt über die Sensomotorik, als Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung, als „Grundlage für Fühlen und Denken“ und als Grundlage musikalischer Förderung und musikalischen Lernens. Der dritte Schritt beschreibt nun das eigentliche Ziel, nämlich die im Titel schon erwähnte Förderung der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit.

Die Förderung der oben angesprochenen Fähigkeiten vollzieht sich mit Hilfe der Stimme und verschiedener Musikinstrumente, wobei dem Orff-Instrumentarium, lateinamerikanischen und afrikanischen Perkussionsinstrumenten große Bedeutung beigemessen wird. Zu berücksichtigen in der Arbeit sind die Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck. Als methodische Prinzipien in der Arbeit sind die Bewegung, die Wiederholung und die Stimulierungsstrukturierung zu berücksichtigen. Eine Schlüsselrolle in diesem Gesamtprozess kommt dem Lehrer zu. Seine Aufgabe ist es, inhaltliche und methodische Prinzipien unter Berücksichtigung der momentanen Situation und der Entwicklungsmöglichkeiten, -fähigkeiten und -wünschen des Schülers zu dessen Wohl miteinander zu verbinden.

Während sich Amrheins Beitrag auf das pädagogische Feld Schule bezieht, stellt Werner Probst „Musik mit Behinderten an Musikschulen“ in den Mittelpunkt seines Beitrags. Diese Arbeit stellt allerdings ein Kooperationsfeld zwischen Sonderschule und Musikschule dar. Die Musikschule, so Probst, ist „der geeignete Ort für die Unterweisung in musikalischer Tätigkeit über den [...] allgemeinen Musikunterricht hinaus“, denn sie „hat die Möglichkeiten zur instrumentalen Ausbildung auf einer Vielzahl von Instrumenten, zum Ensemblespiel und zu einer musikalischen Frühförderung oder Grundausbildung“. So wie die Musikschule der geeignete Vermittlungsort ist, so sind die Musikschullehrer die geeigneten Vermittler, wenn sie um die so genannten „sonderpädagogischen Prinzipien“ (ebd.): wissen: kleine Schritte, Anschaulichkeit, das Prinzip der Wiederholung, Zurücknahme sprachlicher Instruktionen, Tendenz zur abnehmenden Hilfe und zunehmende Selbstständigkeit. Diese in zweijährigen Kursen in Remscheid zu vermitteln, ist seit nunmehr über 20 Jahren das Anliegen von Werner Probst und seinen Mitarbeitern.

Ort der Vermittlung sonderpädagogischer Prinzipien, die letztlich nicht nur die sonder-, sondern die gesamte pädagogische Arbeit beeinflussen (sollen), ist die Akademie Remscheid, deren Direktor Max Fuchs sich im folgenden Beitrag zur Kulturarbeit mit behinderten Menschen äußert (S. 55 ff). Als zentrale Begriffe erscheinen für mich die der „kulturellen Bildung“ und der „Lebenskunst“, die, so Fuchs, eben nicht nur von kultur-, sondern auch von (sonder-)pädagogischer Relevanz sind. Auf sehr persönliche Erfahrungen und Einsichten fußend setzt sich Frederik Vahle mit dem Zusammenhang von Sprache und Bewegung auseinander. Wie auch schon bei Fuchs überwiegen hier anthropologisch, philosophisch, psychologisch und pädagogisch akzentuierte Gedankengänge. Im Anschluss an die bisher eher theoretisch gehaltenen Beiträge, die für sich genommen eine Grundlage für den Bereich Musik in der Sonderpädagogik bieten und durchaus auch den Grenzbereich zur Regelpädagogik bilden, folgen nun vier Beiträge, die von der theoretischen auf die praktische Ebene reflektieren.

In dem ersten Beitrag „Die Hand, die mag das Streicheln“ zeigt Irmgard Merkt sehr schön, wie theoretisch angeeignetes Gedankengut das (musik)pädagogisch-therapeutische Handeln des Pädagogen beeinflussen kann und zu sensiblen (Re-)Aktionen und Reflexionen führt.
Während es sich im Beitrag von Merkt um die musikpädagogisch-therapeutische Arbeit mit einer Schülerin dreht, berichten Björn Tischler und Ruth Moroder-Tischler in ihrem Beitrag über die Arbeit mit einer Integrationsklasse. Ausgangspunkt sind zunehmende Wahrnehmungsstörungen und daraus resultierende (schulische) Probleme, denen mit einem ganzheitlich-erlebnisorientierten, handlungs- und themenzentrierten Musikunterricht begegnet werden kann.

Angelika Neuse-Schneider geht in ihrem Beitrag auf Anfangsübungen für frisch zusammengewürfelte Gruppen ein. Ihr Ziel ist es, möglichst rasch ein gemeinsames Musiziererlebnis zu schaffen. Dabei ist es erst einmal unerheblich, ob es sich dabei um behinderte oder nichtbehinderte Menschen handelt. Wesentlich ist die Orientierung der Übungen und Spielideen an den jeweiligen individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer.
Die Einheit von Musik und Bewegung (Tanz) herauszustellen bildet den zentralen Aspekt des Beitrags von Eva Krebber-Münch. Neben theoretischen Betrachtungen spielt natürlich auch hier die Reflexion auf die Praxis – Erwachsene und Schulkinder – eine wesentliche Rolle. Eine kleine Einführung in die Theorie und Praxis jiddischer Lieder und Tänze gibt Aaron Eckstaedt. Besonders hervorzuheben ist sein ausführliches Literatur- und Tonträgerverzeichnis.
Dieser Band ist der erste der Schriftenreihe Musik und Menschen mit Behinderung. Merkt greift hier eine Tradition auf, wie es sie schon einmal mit den „Dortmunder Beiträgen zur Musik in der Sonderpädagogik“ gab. Dies ist außerordentlich positiv zu bewerten. Dieser Band ist mir sehr wichtig. Es ist gut, von Zeit zu Zeit über die theoretischen Fundamente der eigenen Praxis nachzudenken und es ist ebenfalls gut, Ideen und Gedanken aus der Praxis für die Praxis zu bekommen.

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