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Eindruck vom Wandel der Klangideale

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Harenberg veröffentlichte seinen neuen Klaviermusikführer zur Buchmesse
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Christoph Rueger (Hg.): Harenberger Klaviermusikführer, Dortmund 1998, 98 Mark, 12 CD-Edition: 149 Mark

Als fünftes Opus in der Reihe seiner Kulturführer präsentierte der Dortmunder Harenberg Verlag auf der Buchmesse einen Klaviermusikführer. Wie bei den erfolgreichen Vorläufern für Oper, Konzert, Kammermusik und Schauspiel wollte man wieder ein „umfassendes Kompendium“ schaffen, Standardwerk und universale Referenz für jedermann. Ein hoher Anspruch also. Entsprechend die Ausmaße: Auf rund 1.000 Seiten behandelt eine Autorenschar von Pianisten, Musikwissenschaftlern und Musikpublizisten deutschen Sprachraumes über 600 Werke von 180 Komponisten aller Epochen, mit 1.100 Abbildungen angereichert. Voraus geht eine Einführung in die Geschichte der Klaviermusik durch Herausgeber Christoph Rueger, es beschließen diverse Anhänge, vom Werk- und Personenregister über ein Pianistenlexikon bis zum Glossar – das alles in übersichtlicher und hochinformativer Weise. Die hohe Erstauflage von 20.000 Exemplaren weist schon darauf hin, daß man weniger auf Experten abzielt als auf interessierte Laien und auch Neulinge. Ihr Konzertbesuch soll vorbereitet, Interesse für weitere Auseinandersetzung geweckt werden. Übersichtlichkeit ging also vor wissenschaftlicher Detailfreude. Die Werkbesprechungen durften also ein bestimmtes Niveau an Komplexität keinesfalls überschreiten. Vor dem Rückfall zur spezialistischen Epistel waren die Autoren jedoch nicht immer gewappnet. Bei Unklarheiten hilft dann immerhin das umfangreiche Glossar weiter. Auch der diffuse Allgemeinplatz, allzu oft Quelle des Ärgers in Programmheften und anderswo, greift gelegentlich um sich. Dennoch überzeugen die Werkbesprechungen trotz ihrer Kürze durch sachliche Zuverlässigkeit, ebenso die Werkübersichten und das Pianistenlexikon, eine wahre Fundgrube. Bei der Auswahl der besprochenen Werke besteht eine enorme Übermacht des 19. Jahrhunderts, jenes goldenen Zeitalters der Klaviermusik und ihrer Interpreten. Die enthaltenen Fotos großer Pianisten unserer Zeit sind heutiger Reflex des in jener Zeit wurzelnden Künstler- und Interpretenkultes. Tragen sie auch zur Erläuterung der besprochenen Werke nichts bei, gibt man mit ihrer Hilfe doch einen Überblick, wer als herausragender Beethoven- oder Liszt-Interpret galt und gilt. Zum Buch gehört eine separat zu erwerbende 12 CD-Edition, die Harenberg auch ihrem jüngsten Kulturführer zur Seite stellen will. Man tat damit das einzig Richtige, nämlich Beschriebenes hörbar machen. Man kann ja Bücher füllen mit blumigen Beschreibungen der Einleitung zu Beethovens „Mondscheinsonate“, doch erst, wenn der Leser sie gehört hat, hat er die Chance, das Geschriebene wirklich nachzuvollziehen. Der gegebene Rahmen, so großzügig er gesteckt ist, zwang zur Beschränkung. Das heißt Entscheidungen treffen, was man auswählt und mehr noch, was man wegläßt. Die 12 CDs enthalten 231 Einzelsätze, jeweils abgeschlossen, wie betont wird. Da wirkt es schon seltsam, wenn auf die ersten beiden Sätze von Beethovens opus 109 als nächster Track nicht etwa der finale Variationensatz folgt, sondern das Maestoso aus opus 111. Doch es geht darum, einen möglichst vielfältigen Beispielkatalog anzubieten. Und da gibt es viel zu entdecken. Nicht die großen Evergreens, von „Appassionata“ bis Alla Turca. „Das kann man sich auch bei Klassik-Radio anhören“, so Gerrit Glaner von der PolyGram-Tochter Polymedia, die für die Kompilation verantwortlich zeichnet. Vielmehr habe man auch weniger bekanntes, aber nicht minder wertvolles Repertoire aufnehmen wollen. Man hört zwar nicht Bachs C-Dur-Präludium, dafür aber einmal das „Capriccio über die Abreise des geliebten Bruders“ BWV 992. Von Liszt fehlen die Dante-Phantasie und die Sonate, dafür gibt es das Spätwerk „Nuages gris“. Neben dem modernen Konzertflügel erklingen, da wo sie hingehören, Clavichord, Cembalo und Hammerklavier. Es gibt historische Aufnahmen, auch vom Komponisten selbst eingespielt, etwa Prokofjews „Teuflische Einflüsterung“; und etliches, was bislang gar nicht auf CD vorlag. Mit einem Wort, es handelt sich um eine vielseitige und durchdachte Zusammenstellung, die dem Hörwilligen auch einen Eindruck vom Wandel der Klangideale gibt, am Instrument wie am Mischpult. Mit Zeitgenössischem ging man vorsichtig um. Man habe „die Schwelle nicht zu hoch legen, Vorurteile nicht verhärten wollen“. „Extrem provokante Werke“ seien deshalb nicht vertreten. Was bleibt, ist ein winziger Ausschnitt aus einem riesigen Spektrum zeitgenössischer Musik. Angesichts der Zielsetzung, das Produkt in hohen Stückzahlen zu verkaufen, haben sich bei dieser Entscheidung offenbar „Realos“ gegen „Avantgarde-Fundis“ durchgesetzt.

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