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Der Erzählfundus der griechischen Mythologie ist schon lange eine wesentliche Materialquelle für Rolf Riehm.
Der Erzählfundus der griechischen Mythologie ist schon lange eine wesentliche Materialquelle für Rolf Riehm.
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Fraktaler Trauermarsch

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Der Erzählfundus der griechischen Mythologie ist schon lange eine wesentliche Materialquelle für Rolf Riehm. +++ Die Musik für Solostreicher von Ivan Fedele ist in ihrer Konzentration und Intimität ein Ruheraum, den man in „immersiven“ Zeiten gerne mal aufsucht. +++ Enno Poppe hat in „Fleisch“ (2017) die Aura der Instrumente ernst genommen und Idiome aus Rock, Pop und Jazz durcheinandergewirbelt.

Der Erzählfundus der griechischen Mythologie ist schon lange eine wesentliche Materialquelle für Rolf Riehm. Seit der Kafka-Oper „Das Schweigen der Sirenen“ (1987) beschäftigen sich ganze Genealogien von Stücken mit dem Orpheus-Mythos oder den Legenden der Odyssee. „Fremdling, rede – Ballade Furor Odysseus“ (2002) nutzt das große Orchester wie einen Steinbruch, aus dem Chiffren expressiver Orchesterrhetorik geschlagen werden – oft in blanker Archaik als schroffe, kontextlose Setzungen. Oder um es mit den Worten des Komponisten zu sagen: „Bestimmte, unter Abnutzungs-, Kitsch- oder Sentimentalitätsverdacht stehende Elemente aufgreifen und sie zu Einzelposten der Spannungen machen.“ Stimmlich vermittelt sich das Erzählte hier als Dualismus von Sprechstimme und expressivem Sopran: „Wenn dem Sprecher das Herz überläuft, hört man es singen.“ (Riehm) Geradezu spätromantische Züge nimmt das in dramatischer Interaktion mit dem Orchester in den drei großen Sirenen-Abschnitten an. Der Zugriff auf bereits bestehende Musik ist ein zentraler Aspekt im Schaffen Rolf Riehms. „Double Distant Counterpoint“ (1994) ist eine Re-Komposition von Bachs „Contrapunctus XI“. Bachs Fugenkunst wird hier via Kammerorchester und elektronischen Zuspielungen auseinandergepflückt in Motivpartikel, die den Bruch und die Übertreibung gleichermaßen inszenieren. Bach super spannend fehlgelesen …! (Kreuzberg Records)

Die Musik für Solostreicher von Ivan Fedele ist in ihrer Konzentration und Intimität ein Ruheraum, den man in „immersiven“ Zeiten gerne mal aufsucht. Nach der Veröffentlichung mit Cello-Stücken folgen die Werke für Solo-Violine, sehr prägnant einge­spielt von Francesco D’Orazio. Klangräume, in deren feinnerviger Textur die Geschichte der Geigenliteratur immer mitschwingt, insbesondere die Musik Johann Sebastian Bachs. Eine flirrende Nervösität kennzeichnet Federles Violin-Premiere „Viaggiatori della notte“ (1983), unruhige Nachtgedanken mit einem melancholischen Zentrum. Die „Französische Suite“ stand Pate für die gleichnamige sechsteilige Werkreihe. Tanzcharaktere oder barocke Stilisierungen wird man in der „Suite Francese II“ (2009) jedoch nur schemenhaft ausmachen können, ist deren Klang-Polyphonie doch aus äußerst flüchtigen Molekülen gebaut. Besonders vielfarbig erscheint Fedeles Klangdenken zwischen Verflüchtigung und Gestaltwerdung in den Stücken mit elektronischer Erweiterung: Die sechs Sätze der „Suite Francese VI b“ (2014) entstanden als Vorspiel, Zwischenspiele und Nachspiel zu fünf „Ricercari“ von Domenico Gabrielli. Im Gegensatz zu Fedeles Originalkomposition für Viola wird die Streicherstimme hier nicht nur elektronisch verlängert und aufgespalten, sondern umfassend umgefärbt und verzerrt, sodass sie sich gelegentlich in eine E-Gitarre verwandelt. (Kairos)

Mit Tenorsaxophon, E-Gitarre, Keyboard und Drumset mischt das Ensemble Nikel seit geraumer Zeit mit einer „Rock-Besetzung“ die Neue-Musik-Szene auf. Enno Poppe hat in „Fleisch“ (2017) die Aura der Instrumente ernst genommen und Idiome aus Rock, Pop und Jazz durcheinandergewirbelt. Der Titel ist wörtlich zu nehmen, ist in diesen drei Sätzen weitaus mehr „dran“ als Haut und Knochen und Gitarrist Yaron Deutsch darf hier über weite Strecken klingen wie eine Reinkarnation von Jimmy Hendrix. Poppe hat die populärmusikalischen Trümmer zu einer Collage geschichtet, deren Power ein „echtes“ Stück Rockmusik alt aussehen ließe. In den ungestümen Soli des dritten Satzes sorgen die simulierten Klänge eines Moog-Synthesizers für erhöhte Aufmerksamkeit. Vollkommen anders ist Poppes raumgreifende „Prozession“ (2015/20) gestrickt. Ein spiralförmig retardierender Verdichtungsprozess in neun Abschnitten, der mit einem Bogen von 50 Minuten das Zeitgefühl suspendiert. Die fraktalen Wachstums­prozesse dieses „Trauermarsches“ entwickeln in den Händen der Musikfabrik am Ende eine immer ekstatischere Intensität.  (Wergo)  

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