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Für Blinde und für Sehende

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Eine revolutionäre Klavierschule ist in der Schweiz erschienen
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Martin H. Rembeck: Klavierlernen Punkt für Punkt. Für Sehende und Blinde (2012). In Schwarzschrift: 251 S., ISBN 978-3-033-03285-9; in Punktschrift: 2 Bände, 209 S., SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte, www.sbs.ch

Mit seinem Lehrwerk „Klavier lernen Punkt für Punkt“ hat Martin H. Rembeck ein bedeutendes Hilfsmittel für Klavierpädagogen geschaffen. Es handelt sich um eine Klavierschule zur gleichzeitigen und gleichwertigen Verwendung für Blinde und Sehende. Das bedeutet das Unterrichten in zweifacher Richtung: vom Blinden zum Sehenden, vom Sehenden zum Blinden. Dass es blinde Klavierlehrer gibt, ist bekannt. Diese finden nun ein Lehrwerk, das sie benützen können mit Punktnotenschrift, während parallel eine Schwarzschriftausgabe für den sehenden Schüler zur Verfügung steht, in welcher dieser die Noten lesen kann. In umgekehrter Richtung hat sicher schon mancher sehende Klavierlehrer die Anfrage bekommen, einen blinden Schüler zu unterrichten, und sich wegen unlösbarer Schwierigkeiten nicht zu einer Zusage entschließen können oder aber (so auch der Autor dieser Rezension) selbst mit viel Ideenreichtum und Irrwegen selbst einen methodischen Weg gesucht. Dieser sehende Klavierlehrer findet ein Lehrbuch vor, das er konventionell lesen und verwenden und dabei die parallel gedruckte Punktschrift für den blinden Schüler verwenden kann.

Der methodische Aufbau des Werkes folgt einer Ordnung, die aus der Spielliteratur nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Als Klavierpädagoge ist man gewöhnt von den zwei Hauptaspekten a) Notenlesen und b) kluge technische physiologische Einführung der Verwendung der Finger vorzugehen. Anders muss es hier gehen: Priorität hat das Lesen-Können der Noten und musikalischen Bezeichnungen. So heißen zum Beispiel die ersten Kapitel: Noten und ihre Werte, Oktavzeichen, kleine Schritte – große Sprünge, Mehrstimmigkeit l, Oktavzeichen ll et cetera.

Eine solche Ordnung und Logik wird verständlich, wenn man weiß, dass ja der Blinde nie vom Blatt lesen wird, sondern jeweils mit einer Hand lesend, mit der anderen spielend, Stück für Stück, wirklich „Punkt für Punkt“ diese Zeichen aus sechs Punkten erst lesen muss und dann spielen kann. So sind auch die Übungsstücke nicht überall, wie sonst heute üblich, in erster Linie an der Spielfreude ausgerichtete Stückchen, Lieder, Tänze, Songs et cetera, sondern Lese- und Spielübungen.

Wo in den konventionellen Klavierschulen eine möglichst lineare Progression des Schwierigkeitsgrades herrscht, wird hier die Progression in Form einer Sägezahnkurve gestaltet: So findet man zum Beispiel auf S. 100 einen „zweiten Versuch der Schnecken“, ein zweistimmiges Adagio mit viel Chromatik und häufigem Untersatz bzw. Verrücken der Hände – eine Herausforderung auch für den Sehenden (!), dann auf S. 106 das eingängige Lied „Atte katte Nuva“, das für den Sehenden erheblich leichter wäre. Aber der Blick auf die jeweils anvisierte Fähigkeit wird hier mit mehr Ausdauer der jeweilige Parameter verfolgt, für den eben – speziell für den Blinden – verstärkt die wirkliche Beherrschung nötig ist. Diese Klavierschule verwendet bei den leichteren Übungsstücken vorwiegend Eigenkompositionen des Autors und erreicht als beachtliches Lernziel ein gehobenes Sonatinenniveau mit Stücken von zum Beispiel L. Schytte, Burgmüller, C. Franck, F. Schubert. Das heißt, dass der Anschluss an weiterführende Literatur keinerlei Probleme macht. Die Gesamtprogression scheint beträchtliche Anforderungen zu stellen, jedoch mag man zugrunde legen, dass insbesondere für den blinden Spieler mehr Zeit für das Einlernen des einzelnen Stückes eingeplant wird und die Lernkurve sich somit abflacht.

Trotz aller Erleichterung durch die Verwendung dieses Werkes bleiben natürlich große methodische Anforderungen an den Lehrer, welche mit einem gedruckten Lehrwerk alleine – auch mit einem konventionellen – nicht abgedeckt werden können, sondern durch den Lehrer zu leisten sind. Einige seien hier kurz gestreift:

Ergänzend zu den gedruckten Stücken wird man ohne Improvisationen  und auditiv/auswendig vermittelnde Lieder, Songs et cetera nicht auskommen können; der nur zu lesende Anteil alleine wäre doch unter Umständen zu ernst und schwer. Der sehende Klavierlehrer müsste lernen, dem blinden Spieler die gute Spielhaltung, den lockeren Daumen, das flexible Handgelenk über viel Betasten der Hände zu vermitteln, was dem Sehenden unter Umständen anfangs fremd sein könnte, gilt doch als ungeschriebene Regel, dass man seine Schüler eigentlich nicht anfasst! Das gewohnte „Schau mal her...!“ geht ja nicht. Umgekehrt: Der blinde Lehrer kann nicht sehen, wie sich die Hände seines Schülers bewegen. Er muss diese ebenfalls ertastend kontrollieren und das sogar unter Umständen während dessen Spielens. Problematisch für Lehrer und Schüler wird immer sein, Sprünge und Positionswechsel der Hände auch zu treffen. Dazu sind keine Übungen gegeben. Diese Fähigkeit wird also der Unterrichtende von Anfang an kontinuierlich selbst aufbauen müssen.

Ferner ist das Werk – da seine Herstellung sehr aufwändig und nie rentabel ist – für eine breite Nutzergruppe ausgerichtet – laut Autor „für Kinder und Erwachsene, für Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen geeignet“. Dem muss man aus dem eben erwähnten Aspekt zustimmen, aber nur unter der einschränkenden Voraussetzung, dass das Lerntempo mit Improvisation und Auditivem (s.o.) individuell angepasst wird. Weitere unerlässliche Voraussetzung ist, dass der Logik des Lesenlernens eine Logik einerseits der musikalischen Vorstellungskraft eines jeweiligen Alters,  andererseits der physiologischen Beschaffenheit der Hand gleichberechtigt hinzugefügt wird.

Als der Verfasser dieser Zeilen selbst ein kleines blindes Mädchen vom 6. bis zum 15. Lebensjahr unterrichtete, gab es ein solches Hilfsmittel nicht. Damals wurde jedes Stück im Unterricht „verbalisiert“, dann auf Tonband diktiert, beginnend damit, wie man die Anfangstöne am Klavier findet, wo welcher Finger untersetzt, wie man einen Sprung oder eine Handverlagerung tastend und trotzdem zielsicher ausführen kann. Damals wurde erreicht, dass das Mädchen mit 15 Jahren u.a. einige zweistimmige Inventionen von Bach spielen konnte. Dieses Lehrwerk schließt eine Lücke in der klavierpädagogischen Literatur. 

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