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Künstler und Sprachschöpfer

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Uraufführung von Tilo Medeks Kantate „Morgenröthe im Aufgang“
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Wer über das Leben und Wirken Jacob Böhmes einigermaßen Bescheid weiß, wundert sich, warum ausgerechnet die Evangelische Kirche eine Komposition mit Texten aus seinem geistesgeschichtlich weithin anregenden Erstlingswerk „Morgenröthe im Aufgang“ in Auftrag gibt. Der Bischof der Evangelischen Kirche der Oberlausitz machte es vor der Uraufführung bekannt: Die Kirche nimmt damit ihren geschmähten Sohn wieder auf in ihren Schoß. Und das nach immerhin mehr als 400 Jahren. „Morgenröthe im Aufgang“ beschwor, als die Schrift Verbreitung fand, den Hass der orthodoxen Kirche und besonders des städtischen Oberpfarrers von Görlitz herauf, der ihn von der Kanzel herab als Ketzer verfluchte und seine Entfernung aus der Görlitzer Bürgerschaft verlangte. Der Vorgang ist im Blick auf die jüngere Vergangenheit so inaktuell nicht. Böhme avanciert in diesem Zusammenhang zu einer legendären Symbolgestalt, für Tilo Medek, den aus der ehemaligen DDR Ausgewiesenen, eine bekenntnishafte Identifikationsfigur. Man kann den Schuhmacher und Poeten aus Görlitz, wie mühsam sich seine Texte auch lesen mögen, nicht einfach als religiösen Mystiker abtun, wie das in der Philosophiegeschichtsschreibung usus ist. Der Mann hat in den philosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und vor allem danach Ungeheueres aufgewühlt und angestachelt. Hegel ebenso wie die Philosophie der Romantik bekennen sich zu Böhme als einen ihrer Urväter. Die Internationale Jakob Böhme Ehrung 1999/2000 der Europastadt Görlitz/Zgorzelec und der Region Oberlausitz/Niederschlesien wurde mit dieser Rehabilitation durch den Bischof in der St. Petri und Paul Kirche und mit dieser Uraufführung neben der Kanzel, unter der er einst als Ketzer verflucht worden war, eröffnet. Die Texte Jakob Böhmes, für die sich Medek zur Komposition seiner Kantate entschied, provozieren die Frage: Warum ist eine so musikalisch-künstlerisch ambitionierte Sprachgestaltung nicht schon früher für kompositorische Unternehmungen entdeckt und nutzbar gemacht worden? Den geschmähten und pauschal als „Mystiker“ etikettierten Böhme geistig gegenwärtig gemacht und vor unser prüfendes gleichwie künstlerisch nachschöpferisches Bewusstsein gerückt zu haben, ist Tilo Medeks unumstrittenes Verdienst. „Weil denn in dem Menschen Böses und Gutes war, konnte beides in ihm regieren. So ward ein böser und ein guter Mensch in einer Mutter auf einmal geboren.“ – Mit diesen zeitlosen Worten, vorgetragen von einem Chor a capella, hebt das einstündige Werk an. Es besteht aus sieben Teilen, von dem jeder eigenen strengen Formungsprinzipien folgt. Damit ist in der äußeren Erscheinung dem Allgemeingültigem Ausdruck verliehen, was sich in tiefinnerlicher Gedanklichkeit und im ziselierten Detail verbirgt. „Vom köstlichen oder auch edlen Baum“ handelt das Werk, „Vom göttlichen und natürlichen Wesen“, von der „Offenen Porte des Himmels“, „Von der Bosheit der Welt“ und von der „Göttlichen Kraft“. Medek zu einem konzertant chorsinfonischen Kantatenkomponisten stempeln zu wollen, geht nicht auf. Diese Kantate ist kein Lobpreisungsgesang, sondern ein packendes, zutiefst dramatisches Werk. Was dem Komponissten für die musikalische Verlebendigung der Böhme’schen Worte wichtig und ausgestaltbar erschien, hat er nicht am Wort entlang nachgezeichnet, sondern als selbst Betroffener zum betroffen machenden Nacherleben gebracht. Die vereinigende Ebene, auf der die Aussagen des Textdichters einerseits und des Tonsetzers andererseits zu einer organischen Gestaltungseinheit verschmelzen, besteht in der bildhaft eindringlichen, affekthaften Metaphorik. Da sitzt man denn im Kirchengestühl, hält gebannt die Luft an und vermag es nicht zu fassen, wie zwei im historischen Abstand von 400 Jahren Lebenszeit zu einem heutig gegenwärtigen Gleichklang von dieser Faszination gelangen können. Und was das Entscheidende ist: Man vergisst, dass was da auf einen einstürmt, ein in seiner kompositorischen Machart und Gebärde höchst modernes Zeugnis heutigen Musikdenkens und Musikgestaltens ist. Die Einprägsamkeit der Einfälle, die Plastizität ihrer Erscheinung als entwicklungsfähige Keime musikalischer Ausdrucksabsichten verbinden sich mit einer ihrer jeweils angemessenen Ausarbeitung ins großartig Formale. Das Elementare ist die formbestimmende Kraft, welche die größeren und großen Gestalteinheiten aus sich selbst heraus hervortreibt. Hier hat keiner musikalisch formal etwas zurechtgesägt, sondern hat dem Formungswillen der Substanz in größere Dimensionen gehorcht. Der Bachchor Görlitz, ein – man höre und staune – Laienchor, hat diese ungemein schwierige Kantate in einer kaum glaubhaft kurzen Zeit künstlerisch professionell bewältigt. Man merkte der Aufführung den begeisterten Einsatz des Chores unter dem atemberaubenden Zeitdruck der anstehenden Uraufführung an. Die Neue Lausitzer Philharmonie ist ein ausgezeichnetes Orchester, auf dem ein Dirigent wie Reinhard Seeliger hinreißend spielen kann. Die Sopranistin Susanne Bieber hat die Anforderungen ihrer Partie glänzend und volltönig erfüllt. Der Tenor Hardy Brachmann aus Cottbus wurde mit seinen Aufgaben, ein bisschen Unausgeglichenheit mal übergangen, sehr gut fertig. Blass blieben ausgerechnet die hochgelobten Dresdner Ulrike Zech, Alt, und Fred Bonitz, Bass

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