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Inge Brandenburg - Filmplakat.
Inge Brandenburg - Filmplakat.
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Morgen ist es vielleicht schon zu spät

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Die Wiederentdeckung der großartigen deutschen Jazzsängerin Inge Brandenburg
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Es gibt in der Popgeschichte immer wieder Figuren, die eher Gerücht geblieben sind, weil ihre Werke im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ zu verstreut waren, wie bei Friedrich Hollaender, oder einfach bis heute keine ihnen „gemäße“ Tonträger vorhanden waren, wie bei Inge Brandenburg.

Obwohl die Jazzpäpste der Sixties von Inge Brandenburg schwärmten und viele Puristen ohne Überzeugung deren Hymnen nachsangen, blieb ihr ein Eintrag in die einschlägigen Jazzlexika (Reclam etc.) vorenthalten. Erst in Jürgen Wölfers „Lexikon des Jazz“ taucht ihr Name wieder auf. Dabei hatte sie nur eine einzige Langspielplatte aufgenommen, 1965 für CBS, die allerdings zum begehrten Sammlerstück wurde, als nach 2000 im allgemeinen MPS-Fieber „German Grooves“ von der weltweiten DJ-Szene entdeckt wurden. Doch wer ein paar hundert Dollars hinblätterte, wurde enttäuscht, die Brandenburg wurde von Gunter Hampel durch Jazzstandards förmlich gehetzt. Nach dem Motto je schneller, desto „jazziger“. Ausnahmen waren eine wunderbare Version von „Round Midnight“ und eine annehmbare „Summertime“-Fassung. Eine magere Ausbeute. Wieder so ein „Hype“, der in der Jazzszene genau so oft auftaucht wie in der „Lady Gaga“-Welt. Und hatte die Brandenburg nicht vor allem schreckliche Schlager gesungen, die man längst vergessen hatte?

Aber irgendwie verfolgte mich ihr Name weiter. Als sie im letzten Jahr auf dem großartigen Sonorama-Sampler „Now’s The Time – Deep German Jazz Grooves 1956 – 1965“ mit einer traumhaften Version von „Lover Man“ auftauchte, dachte ich, eigentlich wäre es jetzt Zeit für die Brandenburg. Aber die Recherchen ergaben, dass sie tatsächlich nur die CBS-LP und diese Decca-Ep mit „Lover Man“ für Jazzfreunde aufgenommen hatte. Und einige schreckliche Schlager-Singles für die Firma, die in den 60  ern mit der Valente und der Knef große Langspielplattenerfolge feiern konnte. Traurig wollte ich sie zu den Akten legen. Die Brandenburg als große deutsche Jazzsängerin sollte weiterhin ein „Gerücht“ für mich bleiben. Bis Anfang des Jahres in einem Nachruf auf den Regensburger „Jazzpapst“ Richard Wiedamann die Brandenburg wieder auftauchte. Wenige Tage vor seinem Tod hatte der rührige Leiter des Bayerischen Jazzinstituts und „Seele“ der Jazzszene der Domstadt noch den Rohschnitt gesehen einer Arte-Dokumentation über Inge Brandenburg und war davon ganz gerührt gewesen: „Sing! Inge, Sing!“ Im Herzen dieses Films, der im Oktober erst einmal in die Kinos kommt, steht „der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg“, einer Künstlerin, die im Nachkriegsdeutschland ihren Platz nicht finden konnte in der Unterhaltungsszene, weil sie „zu überqualifiziert“ war für dieses Biotop. Ein ideales Thema für einen Regisseur, der sich seit Ende der 90er-Jahre kontinuierlich den deutschen Pop-Ikonen jener Ära widmet: Alexandra, Gitte Haenning und Bert Kaempfert, dem Mann, der die Beatles „entdeckt“ hatte und mit „Strangers In The Night“ einen Welthit schrieb. 

Und auf Doris Kaempferts neuem Label „Silver Spot Records“ ist nun auch der Soundtrack zu dieser Dokumentation erschienen, der dank Marc Boettchers „labor of love“ ein vollkommen neues Licht auf die Brandenburg wirft. Abgesehen von „Lover Man“ und „All Of Me“ gibt es nur Material zu hören, das bisher nicht auf Tonträgern erschienen war. Entdeckt hat Boettcher diese Perlen dort, wo immer noch die meisten Schätze deutscher Unterhaltungsmusik verborgen sind: in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Abgesehen von zwei typisch-deutsch überladenen Rundfunkorchester-Aufnahmen klingt hier alles sehr amerikanisch. 1958 war die in amerikanischen Clubs musikalisch sozialisierte Brandenburg in Frankfurt. Und schon zwischen 1959 und 1962 scheint sie auf dem sängerischen Höhepunkt gewesen zu sein. Eine gereifte Jazzsängerin mit tiefer Stimme, die sich hinter einer June Christy oder einer Anita O’Day nicht zu verstecken brauchte. Und wenn man ihre coolen, relaxten Versionen von „Easy Living“ oder „Skylark“ hört, versteht man endlich, warum sie das „Time Magazine“ 1960 zur „neuen Billie Holiday“ ausrief. Selbst Cole Porters „It’s All Right With Me“, das sie auf der CBS-Platte versemmelt hatte, glitzert hier. Überhaupt scheint sie damals eine wunderbare Cole-Porter-Interpretin gewesen zu sein. Ihr „Love For Sale“ gehört zu den absoluten Highlights dieser Collection. Kongenial unterstützt wird sie dabei von Combos mit den Mangelsdorff-Brüdern, Dusko Goykovich, Pepsi Auer, Helmut Brandt oder Johannes Rediske. Vorzügliche Arrangements betten hier den Gesang und die instrumentalen Soli auf sehr amerikanische Weise ein. Übrigens meistert sie bei „Temptation“ auch einmal den Kampf mit der großartigen Big Band von Ted Heath. Ihre großen Vorbilder waren ja Peggy Lee, Judy Garland oder Frank Sinatra. Und wie diese zelebrierte sie genüsslich die „lyrics“ eines Johnny Mercer oder Cole Porter. Und das ohne Akzent! Ja, man muss ins Schwärmen geraten, wenn man diese deutsche Jazzsängerin aus Leipzig hört, die in ihrer „Hochzeit“ tatsächlich mit den amerikanischen Kolleginnen mithalten konnte. Und man muss traurig werden, wenn man erfährt, dass sie von der deutschen Plattenindustrie nur als weitere Schlager-Tante verheizt wurde. Sie war vermutlich zu „weich“ für dieses Geschäft und deshalb tauchte sie bald nur noch in den Klatschspalten auf, wenn wieder einmal von ihren Alkoholexzessen und ihren Schlägereien berichtet wurde. „Morgen ist es vielleicht schon zu spät“, dichtete sie 1971. Auf ihr „Morgen“ wartete sie bis zuletzt. 1995 hatte sie noch einmal ein Comeback versucht, doch wie man hier bei einer abgedroschenen „Basin Street Blues“-Fassung hören kann, war die Magie verschwunden. 

Doch was die Aufnahmen um 1960 herum betrifft, behaupte ich, keine besseren deutschen Vocaljazz-Aufnahmen zu kennen… Ein Höhepunkt deutschen Jazzgesangs. Sing! Inge, sing!

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