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Schätze von Tenorgiganten der 60er-Jahre

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Jazzneuheiten, vorgestellt von Marcus Woelfle
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Oft werden bislang unveröffentlichte Aufnahmen großer Musiker als „Heiliger Gral“, als „Stein der Weisen“ veröffentlicht und doch nicht immer ist es berechtigt. Hier ist jedoch der Jubel begründet! „Grits, Beans and Greens. The Lost Fontana Studio Session 1969“ ist nicht nur ein würdiges Tes­tament der Kunst des britischen Tenorsaxophonisten Tubby Hayes, es ist ein Meisterwerk des europäischen Jazz, das mit 50 Jahren das Licht der Welt erblickt.

Bei fast Vergessenen muss man zu Vergleichen greifen. Sein Spiel jener Tage zeugte von der Verwurzelung im Hard Bop, doch zunehmend hatte er sich am John Coltrane der Atlantic-Periode orientiert und wie dieser vereinte er die Ausdauer eines Marathonläufers mit der Geschwindigkeit eines Sprinters. Hayes besaß das natürliche Swing-Feeling eines Zoot Sims, die Impulsivität und Behändigkeit eines Johnny Griffin, die technische Mühelosigkeit eines Stan Getz und die den Straight Ahead Jazz an seine Grenze führende Neugier Joe Hendersons. Vor allem besaß er die Fähigkeit, immer im Fluss zu bleiben, das aber bei wilden Sturzbächen, überraschenden Windungen und Wasserfällen. Die fünf mit der kochenden, inspirierenden Rhythmusgruppe aus Mike Pyne (p), Ron Mathewson (b) und Spike Wells (d) eingespielten Stücke – vier „burner“ und eine leuchtende Ballade – strotzen vor Einfallsreichtum und Energie und strahlen glückhaften Optimismus aus. Wie anders scheint sein Leben ausgesehen zu haben! Bald nach dem farbenreichen Feuerwerk begann der Niedergang des Saxophonisten, der nach Problemen mit Drogen, Alkohol und zwei Herzoperationen bereits 1973 mit nur 38 Jahren starb. (Fontana)

Ein Wunder, dass immer wieder unbekanntes Studiomaterial von John Coltrane ans Tageslicht kommt – trotz des Brandes der Universal Studios, dem 2008 auch die Master-Bänder des Labels Impulse zum Opfer fielen. Wer hätte gedacht, dass das klassische John Coltrane Quartett mit McCoy Tyner (p), Jimmy Garrison (b) und Elvin Jones (d) einen Soundtrack eingespielt hat? Cineasten, die zugleich Jazzfans sind, hätten eigentlich längst merken müssen, dass es sich bei der Musik zu „Le chat dans le sac“ nicht um gängige Plattenaufnahmen des Genies handelt. Der unter Einfluss der Nouvelle Vague stehende kanadische Filmemacher Gilles Groulx war Jazzfan und gerade französische Regisseure hatten modernen Jazz im Film etabliert. Im Gegensatz zu Miles Davis, der den Soundtrack zum Film „Fahrstuhl zum Schafott“ mit einer Gruppe französischer Musiker improvisierte, nahm Coltrane „nur“ auf Wunsch des Regisseurs im Studio des legendären Tonmeisters Rudy van Gelder Stücke auf, die der Regisseur wünschte, Coltrane-Klassiker wie „Village Blues“ „Like Sonny“, „Traneing In“ und „Naima“, das der Saxophonist für seine Frau komponierte und das im Film eine Liebesszene untermalte. Letztlich wurden nur 10 der 37 aufgenommenen Minuten Musik verwendet. Wenn man bedenkt, dass die Aufnahmen zwischen „Crescent“ und „A Love Supreme“ entstanden und Coltrane im Studio nur selten auf ältere Stücke zurückgriff, die er zum Teil noch in den 50er-Jahren geschrieben hatte, erlaubt das Album uns unverhofft, ein Genie, das stets im Aufbruch in unbekanntes Neuland war, einmal in der Situation des Rückblicks zu erleben. Wer meine, das Album enthalte „nur“ Remakes, sollte genauer hinhören. Vergleiche können, müssen aber nicht zwangsläufig zu Gunsten der älteren Versionen ausfallen. Das ist insbesondere beim Titeltrack „Blue World“ der Fall, der eine Variante des Standards „Out of This World“, den Coltrane 1962 in einer doppelt so langen, unruhig-erregten Fassung eingespielt hatte, hier aber schon in mäßigerem Tempo mit Inbrunst die sakrale Stimmung von „A Love Supreme“ vorwegnimmt. Gänsehaut! Ein wahrlich goldener Fund! (Impulse!)

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