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Stille Nacht – ein Lied mit vier Tönen

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JeKi und die Folgen, eine mögliche Utopie von Anja Bossen
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Lara-Sophie und ihr Bruder Per-Ole überraschen am Heiligen Abend Papa, Mama, Oma und Opa damit, dass sie ein Weihnachtslied auf der Geige vorspielen. Sie haben es im JeKi-Unterricht in der Schule geübt. Damit es auch gut klappt, hat die JeKi-Lehrerin Frau Schöngrupp schon nach den Osterferien angefangen, mit der JeKi-Gruppe zu üben. Es gab allerdings ein bisschen Zoff in der Gruppe, weil Kevin rumgezickt hat. Er fand es doof, ein Weihnachtslied einzuüben, weil seine Mama keine Weihnachtslieder mag.

Kevin lebt allein mit seiner Mama, und die muss ganz viel arbeiten und ist froh, wenn sie ihre Ruhe haben kann. Ganz besonders zu Weihnachten. Am liebsten würde Kevin zum Fußball statt zum JeKi-Unterricht gehen. Aber das darf er nicht, denn bei JeKi müssen nun mal alle Kinder mitmachen. Also motzt er dauernd rum. Frau Schöngrupp hat gesagt, Kevin soll aufhören rumzumotzen, denn die meisten Eltern finden Weihnachtslieder nun mal schön. Und obwohl sie Kevin zu jeder JeKi-Stunde eine Tafel Schokolade mitgebracht hat, hat Kevin trotzdem nicht mitgemacht, sondern den Unterricht gestört und allen möglichen Quatsch gemacht. Trotzdem freuen sich Per-Ole und Lara-Sophie darauf, das Lied an Weihnachten nun endlich vorspielen zu können. Nach so vielen Wochen Üben muss es ja klappen! 

Endlich ist es soweit. Alle haben sich schön angezogen und zusammen den Baum geschmückt. Lara-Sophie und Per-Ole holen ihre JeKi-Geigen und ihre bunten JeKi-Hefter. Per-Ole zählt laut: „Eins, zwei, drei“, und dann fangen die Kinder an zu spielen. Oma versucht mitzusingen, hört aber nach der Hälfte des Liedes auf. Die Kinder schaffen das ganze Lied ohne Fehler! Papa ist begeistert, und Mama wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. 

Nur Oma und Opa gucken ein bisschen komisch. Oma fragt, wie das Lied heißt, denn das Lied kennt sie gar nicht. Dabei kennt sie von früher jede Menge Weihnachtslieder. Lara-Sophie ruft: „Aber Oma, das musst du doch kennen, das Lied heißt ‚Stille Nacht‘! Das gab es früher auch schon, hat Frau Schöngrupp gesagt. Wir haben das in JeKi gelernt und ganz lange mit unseren JeKi-Tönen geübt!“ Oma wundert sich: „Klar kenne ich ‚Stille Nacht‘, aber das hat sich früher ganz anders angehört, und da kamen auch viel mehr Töne drin vor!“ Da mischt Papa sich ein: „Oma, jetzt fang doch nicht wieder damit an, dass früher alles besser war, das geht mir wirklich auf die Nerven! Wir leben im Zeitalter der Globalisierung! Alles wird effizienter, auch die Weihnachtslieder, und heutzutage spielt man ‚Stille Nacht‘ eben nur mit vier Tönen. Man muss mit der Zeit gehen.“ Aber Mama ist nicht Papas Meinung, weil sie sieht, wie enttäuscht Oma ist, dass sie nicht mitsingen konnte. Mama beschließt, bei der Musikschule zu fragen, ob die dort nicht eine Geigenlehrerin haben, die Lara-Sophie und Per-Ole vielleicht „Stille Nacht“ so wie früher beibringen kann. Extra für Oma nächstes Jahr zu Weihnachten.

Kurz vor Weihnachten, im Jahr 2020

„Kinder, beeilt Euch, ihr seid spät dran! Ihr kommt noch zu spät zur Schule!“, ruft Mama. Lara-Sophie und Per-Ole reiben sich verschlafen die Augen. Sie sind schrecklich müde, denn sie sind am Abend zuvor erst spät ins Bett gekommen. Das liegt daran, dass sie seit Januar in die Musikschule zum Geigenunterricht bei Frau Hart-Zwier gehen. Da müssen sie drei Stunden mit dem Bus hinfahren. Deshalb machen sie sich dienstags immer sofort, nachdem sie aus der Schule gekommen sind und ihre Hausaufgaben erledigt haben, auf den Weg. Mama hat sie in der Musikschule gleich nach dem letzten Weihnachten angemeldet. Sie konnte bei der Anmeldung aussuchen, ob Per-Ole und Lara-Sophie lieber nach der historisch-ganzheitlichen oder nach der reduziert-ökonomischen Unterrichtsmethode unterrichtet werden sollen. 

Obwohl der historisch-ganzheitliche Unterricht viel teurer ist als der reduziert-ökonomische, hat Per-Oles und Lara-Sophies Mama sich für den historisch-ganzheitlichen Unterricht entschieden, denn die nette Frau im Musikschulbüro hat ihr gesagt, dass die Kinder „Stille Nacht“ so wie früher nur mit dieser Methode lernen können. Die Geigenstunde dauert immer von 21 bis 21.45 Uhr, und dann müssen die Kinder nach der Rückfahrt auch noch zu Abend essen und Zähne putzen. Eigentlich macht Lara-Sophie und Per-Ole  der Geigenunterricht Spaß, wenn sie nur nicht immer so müde wären… Aber Mama sagt, dass das ein Geschenk für Oma zu Weihnachten ist. Damit Oma dieses Jahr bei „Stille Nacht“ mitsingen kann. Außerdem ist es gut fürs Lernen in der Schule, wenn man ein Lied mit mehr als vier Tönen spielen kann, sagt Mama. Man kann sich dann alles leichter merken und bekommt bessere Zensuren. Das hat Mama im Internet gelesen. Und wenn man bessere Zensuren bekommt, kann man später einen richtigen Beruf haben und ganz viel Geld verdienen. Nicht so wie die Mama von Kevin. 

Als Kevins Mama noch zur Schule ging, gab es noch kein JeKi, sondern ein Fach, das hieß „Musik“. Aber da haben die Kinder kein Instrument gelernt, und deshalb sind auch nicht alle schlau geworden. Manche Kinder haben schlechte Zensuren bekommen, so wie die Mama von Kevin. Und wenn man schlechte Zensuren hat, kann man später nur Niedriglohnarbeiter werden. Niedriglohnarbeiter verdienen ganz wenig Geld und müssen deshalb viel, viel mehr als der Papa und die Mama von Per-Ole und Lara-Sophie arbeiten. Und weil sie immer so viel arbeiten muss, will die Mama von Kevin auch kein Lied zu Weihnachten hören. Nicht nur, weil sie keine Weihnachtslieder mag, sondern weil sie auch immer so müde ist, sagt Kevin. 

Lara-Sophie und Per-Ole wollen später, wenn sie groß sind und Kinder haben, nicht zu müde sein, um ihnen beim Vorspielen auf der Geige zuzuhören. Deshalb finden es Per-Ole und Lara-Sophie gut, wenn man vom Geige spielen besser in der Schule werden kann. Wann es wohl endlich so weit sein wird? Sie gehen nun schon seit einem Jahr außer zu Frau Schöngrupp auch in die Musikschule zu Frau Hart-Zwier und sind trotzdem in der Schule noch nicht besser geworden. Dennoch gehen sie gern in die Musikschule, denn Frau Hart-Zwier ist immer sehr nett. Ganz besonders nett ist sie, wenn ihr Per-Ole und Lara-Sophie den Korb mit Brot und etwas Wurst und Butter mitbringen, den Mama ihnen einmal im Monat mit auf den Weg gibt. Manchmal legt sie sogar noch einen Kuchen oder ein Flasche Wein dazu, denn sie sagt, dass Musiklehrer sehr arme Leute sind. Das finden Lara-Sophie und Per-Ole komisch, denn wenn man so gut Geige spielen kann wie Frau Hart-Zwier, muss man doch eigentlich vom vielen Geige Üben ganz schlau sein und gute Zensuren in der Schule gehabt haben. Und dann kann man doch eigentlich kein Niedriglohnarbeiter sein wie die Mutter von Kevin. Mama kann ihnen das auch nicht so richtig erklären.

Heiligabend, im Jahr 2020

Dieses Jahr strahlen auch Omas Augen, als die Kinder an Heiligabend „Stille Nacht“ spielen. Mit elf Tönen, so, wie Oma es von früher kennt. Endlich kann Oma mitsingen! Und sie ist ganz gerührt, als die Kinder ihr erzählen, dass sie jeden Dienstag ganz viele  Stunden extra für Oma in die Musikschule gefahren sind. Oma wundert sich zwar, denn als sie jung war, gab es noch in jeder Stadt eine Musikschule. Aber sie traut sich nicht, das zu sagen, weil sie dann wieder Ärger mit Papa bekommt. Bestimmt sagt der dann wieder, dass sie nicht modern ist, weil sie früher alles besser fand. Also sagt sie nichts, sondern will lieber noch einmal „Stille Nacht“ singen. Auch Opa singt mit. Er kennt die Melodie auch von früher, aber er kann nur die erste Strophe singen. Die anderen hat er vergessen. Mama und Papa möchten das Lied auch gern lernen, und so bringt Oma allen sämtliche Strophen von „Stille Nacht“ bei. 

Die gesamte Familie hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß. Dabei vergessen alle vollkommen, dass sie eigentlich im Fernsehen „JSDS“ sehen wollten. Bei „JSDS“ treten ganz viele JeKi-Gruppen auf , und die Gruppe, die es als erste schafft, zwei Lieder zu spielen, die länger als 20 Sekunden dauern und mehr als drei Töne haben, wird JeKi-Star und darf in der Plattenfall-Arena dem Chef von Plattenfall vorspielen. Der gibt nämlich Frau Schöngrupp Geld, damit alle Kinder bei ihr viele schöne JeKi-Lieder lernen können. Und Kindern wie Kevin, also Kindern von Niedriglohnarbeitern, borgt er manchmal auch ein Instrument. Nächstes Jahr soll die Gruppe von Per-Ole und Lara-Sophie auch bei „JSDS“ mitmachen. Frau Schöngrupp hat sie schon angemeldet. 

Bis die Kinder so weit sind, müssen sie noch ganz viel üben. Aber selbst Kevin gibt sich jetzt Mühe, denn er weiß, dass seine Mutter gerne Fernsehen guckt. Selbst wenn sie ganz schrecklich müde ist. Vielleicht wird die JeKi-Gruppe von Frau Schöngrupp der JeKi-Superstar 2020, und dann findet Kevins Mutter auch irgendwann Weihnachtslieder schön. 

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