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Zeitlose Irrealität des Geschehens

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Lyon-Live-Mitschnitt von Eötvös’ „Drei Schwestern“ veröffentlicht
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Eötvös hatte Tschechows handlungsarmes, das Gesellschaftsleben der russischen Provinz zu Ende des 19. Jahrhunderts schilderndes Schauspiel von Claus H. Henneberg zu einem Libretto umformen lassen, das er dann ins Russische übertrug. Er komponierte nicht einfach dem Handlungsfaden entlang, sondern beleuchtet das Geschehen in drei „Sequenzen“ von drei verschiedenen Personen des Stückes aus: von Irina, Andrej und Mascha. Das ergibt dramaturgische Überschneidungen und Zeitüberlagerungen, ja der Zeitverlauf wird außer Kraft gesetzt. Eine etwas verwirrende Dramaturgie, zumal die Originalsprache das Verständnis nicht gerade erleichtert. Der des Russischen nicht mächtige Hörer der Aufnahme ist also auf das im Booklet viersprachig abgedruckte Textbuch angewiesen. Die Rheinoper tat gut daran, ihrer von Inga Levant erstellten Inszenierung den deutschen Text zugrunde zu legen. In Lyon nahm Eötvös eine weitere Verfremdung vor, er ließ sämtliche Frauenrollen von Countertenören und einem Bass singen, auch damit die zeitlose Realität des Geschehens unterstreichend. Auch dies übernahm man klugerweise in Düsseldorf nicht. Klanglich geht die Rechnung problemlos auf, solange gesungen wird. Die Ähnlichkeit des Klanges mit dem Timbre von Sopranistinnen und einer Altistin ist auf der Aufnahme verblüffend. Allerdings im gesprochenen Dialog – und es wird auf ganzen Strecken des Werkes gesprochen – wird die Verfremdung unüberhörbar. Aber auch das entspricht dem Konzept der Zeitlosigkeit.

Zu den Opern-Novitäten, die international Aufsehen erregten, gehörte die Tschechow-Oper „Die drei Schwestern“ des ungarischen Dirigenten-Komponisten Peter Eötvös. Die Uraufführung am 13. März 1998 in der Opéra de Lyon wurde von Radio France aufgenommen. Der Live-Mitschnitt, den nunmehr die Deutsche Grammophon veröffentlicht, gewinnt seine besondere Aktualität durch die Neuinszenierung des Werkes an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf vor wenigen Wochen, wenngleich die Düsseldorfer Produktion nicht nur szenisch sondern zum Teil auch musikalisch von der Uraufführungs-Version abweicht. Eötvös hatte Tschechows handlungsarmes, das Gesellschaftsleben der russischen Provinz zu Ende des 19. Jahrhunderts schilderndes Schauspiel von Claus H. Henneberg zu einem Libretto umformen lassen, das er dann ins Russische übertrug. Er komponierte nicht einfach dem Handlungsfaden entlang, sondern beleuchtet das Geschehen in drei „Sequenzen“ von drei verschiedenen Personen des Stückes aus: von Irina, Andrej und Mascha. Das ergibt dramaturgische Überschneidungen und Zeitüberlagerungen, ja der Zeitverlauf wird außer Kraft gesetzt. Eine etwas verwirrende Dramaturgie, zumal die Originalsprache das Verständnis nicht gerade erleichtert. Der des Russischen nicht mächtige Hörer der Aufnahme ist also auf das im Booklet viersprachig abgedruckte Textbuch angewiesen. Die Rheinoper tat gut daran, ihrer von Inga Levant erstellten Inszenierung den deutschen Text zugrunde zu legen. In Lyon nahm Eötvös eine weitere Verfremdung vor, er ließ sämtliche Frauenrollen von Countertenören und einem Bass singen, auch damit die zeitlose Realität des Geschehens unterstreichend. Auch dies übernahm man klugerweise in Düsseldorf nicht. Klanglich geht die Rechnung problemlos auf, solange gesungen wird. Die Ähnlichkeit des Klanges mit dem Timbre von Sopranistinnen und einer Altistin ist auf der Aufnahme verblüffend. Allerdings im gesprochenen Dialog – und es wird auf ganzen Strecken des Werkes gesprochen – wird die Verfremdung unüberhörbar. Aber auch das entspricht dem Konzept der Zeitlosigkeit. class="bild" align="center">Peter Eötvös

Eötvös setzt zwei Klangkörper ein: ein Kammerensemble, in dem Bläser und Schlagzeuggruppen dominieren, vorne im Graben und ein „normales“ Sinfonieorchester unsichtbar hinter der Bühne. Dadurch entstehen reizvolle Raumklang-Wirkungen, die auf der Aufnahme seltsamerweise noch plastischer herauskommen als es im Düsseldorfer Opernhaus der Fall war. Die Gesangspartien, vorwiegend in rezitativischem Parlando gehalten, sich aber gelegentlich auch zu kantabel-ariosen Monologen weitend, werden vom Orchester nie zugedeckt. Die splittrig-konzise, aphoristisch wirkende, von kleinmotivischen Kommentaren vorwiegend des Kammerensembles bestimmte Musik wird durchaus opernhaft, das Geschehen charakterisierend, eingesetzt und reduziert sich stellenweise auf eine oder zwei Linien. Das Ganze hat zweifellos suggestiven Reiz und trägt auch ohne die Bühnenoptik. Als Dirigenten – es werden derer zwei benötigt – fungieren Kent Nagano und der Komponist.

Das vokale Niveau des Mitschnitts ist durchweg hoch. Das gilt für das Stimmlich-Gesangliche wie für die ausdrucksmäßig-darstellerische Charakteristik, mit der die Rollenporträts gezeichnet werden. Sie einzeln aufzuführen hätte angesichts der stimmlichen „Verfremdungen“ und des Ensemblecharakters des Werkes wenig Sinn. Vorzüglich die Prägnanz und Perfektion des Spiels der beiden Klangkörper. Bleibt abzuwarten, ob sich nach Lyon und Düsseldorf weitere Bühnen an das interessante Stück wagen werden.

Peter Eötvös: Die drei Schwestern. Mitschnitt der Uraufführung. Alain Aubin, Vatcheslav Kagan-Palay, Oleg Riabets, Albert Schagidullin, Gaey Boyce, Nikita Storojev, Woytek Drabowicz, Dietrich Henschel, Peter Hall u.a. , Orches-tre de l’Opéra de Lyon, Dirigent:. Kent Nagano, Peter Eötvös.

Deutsche Grammophon 459 694-2 (2 CDs)

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