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Zügelloser Schneckenschwarm mit Tempo

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Moritz Eggerts Oper „Die Schnecke“ am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt
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Nach der umjubelten Kinderoper „Dr. Popels fiese Falle“ ist Moritz Eggert erneut ein Publikumserfolg gelungen. Der 38-Jährige ist „Composer in Residence“ der Spielzeit 2003/2004 am Mannheimer Nationaltheater. Auch in der „Schnecke“, seinem sechsten Bühnenwerk, schimmert recht oft und kräftig sein musikalisches Vorleben als Jazz- und Rockmusiker durch. Hinzu kommen einige geschickt placierte Zitateinsprengsel.

Die Schnecke war als Sing- und Tanzspiel konzipiert. Von der Ballettchoreographie blieb dann lediglich das devote Schlängeln und Kriechgebaren von fünf nacktschneckenähnlichen Figuranten übrig. Hans Neuenfels, vom Publikum wegen seiner tiefenpsychologischen Neudeutungen gefürchtet, zeichnete nicht nur für die Inszenierung verantwortlich, sondern auch für das Textbuch – sein zweites nach „Giuseppe e Sylvia“ für Adriana Hölszky.

Inspirationsquelle für das Libretto war das Gedicht „Caracola“ des von Faschisten ermordeten spanischen Autors Federico García Lorca – ein Gedicht mit Atmosphäre, aber ohne Handlung. Neuenfels bringt Nacktschnecken auf die Bühne, die wegen ihrer Schutzlosigkeit eines Hirten bedürfen, dazu Kindesmord mit der Gartenschere, zugespielte „Raspelzungengeräusche“, giftige Hecken und anderes Ländliches. La caracola ist jedoch keine Landschnecke, weder mit Haus (el caracol maskulin und ohne a) noch ohne Haus (la babosa), sondern eine Meeresschnecke oder große Muschel. Den Skandalregisseur reizte wohl weniger die tatsächlichen Lebensumstände der Gedicht-Tiere als vielmehr der Umstand, dass Schnecken Hermaphroditen sind. So bot sich die Gelegenheit, die Palette der auf der Opernbühne üblichen Sexualpraktiken um das Liebesleben der Zwitterwesen und um ihre kannibalischen Mordgelüste zu erweitern. Da wird massakriert und masturbiert, Hauptsache es reimt sich. Das schlüpfrige Sujet schlägt sich in einer Fülle zotiger Verse nieder: anal reimt sich auf fatal, Arsch auf barsch oder scheißen auf heißen; dazwischen gibt es kleine Kalauer: Sauna auf Fauna, Kalbsbries auf Striptease.

Neuenfels stibitzt ein wenig bei Aschenputtel oder Faust, zitiert Joseph Goebbels und schlittert mit Karacho, Lust und Ochsenbrust über die Geschmacksgrenze: Muss man Contergan auf Wahn reimen? Die Geschichte ist ein Konglomerat behandlungsbedürftiger Beziehungen vom Bruderhass bis zum Ödipuskomplex. Das bizarre Drama einer reichen Familie wird erzählt. Sohn Edgar promoviert, während sein Bruder Manfred an der Universität scheitert und aus der Familie verstoßen wird. Edgar dankt den Eltern für das überschriebene Vermögen, indem er sie aus dem Haus wirft. Die Eltern ihrerseits rächen sich mit Mord: Er und seine Freundin werden mit der Gartenschere zerschnitten, dass die giftig grünen Eingeweide hervorquellen. Der zurückgekehrte Manfred bringt die Eltern um. Die Stimmlagen der sechs Gesangsrollen sind konventionell gewählt. Sympathieträger Manfred (Xavier Moreno) ist Tenor, seine Liebste Helga (Marina Ivanova) Sopran. Der tückisch-schleimige Edgar ist eine Baritonpartie (Thomas Berau), dessen Freundin Inge (Andrea Szántó) Mezzo. Der Chef des Familienclans Vater Arthur muss ein Bass sein (Tomasz Konieczny) und die skurrile Mutter Maria (Ceri Williams) Alt.
Das Bühnenbild (Christof Hetzer) mit braunen Pappfassaden wird durch den bunten Chor belebt (Kostüme: Elina Schnizler). In Berufskleidung von der OP-Schwester bis zum Schornsteinfeger und zeitweise in blaue Müllsäcke verhüllt, schlagen sich die Choristen auf die Seite des erfolgreichen Edgar, während der Versager Manfred nur von den Außenseitern Irmgard (Almut Henkel) und Florian (Daniel Eberle) unterstützt wird.

Bis die verschiedenen Handlungsstränge verknüpft werden, ist die Oper fast vorüber und so bleibt als strukturgebendes Element einzig die Musik.

Moritz Eggert gliedert durch Vielfalt. Hier gibt es keine ermüdende, monumentale Avantgarde-Routine, sondern ein reiches Spektrum, bei dem die einzelnen Farben von E- und U-Musik sehr durchdacht eingesetzt sind. Langsam gespielte Terzenketten der Streicher dienen als Symbol für die Dualität, das Zwitterdasein, der Schnecke. Dieses einzige Leitmotiv begleitet die ersten Auftritte des Versagers Manfred, während der erfolgreiche Edgar mit knackigen Blechbläsereinwürfen charakterisiert wird. Im rasanten Wechsel folgt auf Bigbandsound ein Ländler. Ein Liebesduett erscheint durch Begleitung von Blockflöte und Harfe noch zarter. Es gibt weichgespülte Musicalklänge, wenn vom Garten Eden gesungen wird, eine psychedelische Glockenspielmelodie oder eine Klaviertarantella.

Eggert spielt mit Zitaten, so darf die Mutter mit der Turmschneckenfrisur ihren Namen Maria á la „Westsidestory“ anklingen lassen und in der Ödipusszene markiert die Trommel den Bolerorhythmus. Man hört Schulbusschlager und ahnt die Nationalhymne, ein Konfettiregen entlehnter Musikschnipseln prasselt auf das Publikum nieder. Die Eltern feiern die geglückte Rache mit einem synkopenreichen, orgiastisch-mörderischen Klavierkonzert und der einst so sensible Manfred der anfangs süße Belcantoarien sang, trägt nach seiner Verwandlung zum Macho die Neuenfels-Dadaverse – eigentlich naheliegend - als rasanten Rapp zu rasseldominierten südamerikanischen Rhythmen vor.

Eggert, der Meisterschüler des Mün-chner Komponisten Wilhelm Killmayer, greift genauso gekonnt und zielsicher in die Farbkiste, wie sein Lehrer in die der musikalischen Formen. Wer sich so gekonnt im Fundus bedient, mit Stilen jongliert, und dabei seinen Eigenen entwickelt, für den gilt „Mischen is possible“. Die Schnecke wird Spuren hinterlassen.

Siehe auch:

Keine Kindersärge, keine C-Dur-Idylle
Der Komponist und Pianist Moritz Eggert · Von Andreas Kolb

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