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Szene mit Noa Frenkel aus „Subnormal Europe“/Münchener Biennale 2020. Fotograf: Armin Smailovic
Szene mit Noa Frenkel aus „Subnormal Europe“/Münchener Biennale 2020. Fotograf: Armin Smailovic
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Zur Kritik der Digitalisierung

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Essay von Daniel M. Feige
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Wenn in den gegenwärtigen politischen und in Teilen auch journalistischen Debatten die Rede von Digitalisierung ist, so wird darunter so etwas wie eine freundliche Naturmacht verstanden: Wir erfahren hier, dass die Digitalisierung ohnehin kommt und es darum gehen muss, sie sozialverträglich politisch umzusetzen und zu begleiten. Zugleich erfahren wir, dass sie uns eine Erleichterung und Verbesserung unserer Lebensweise verspricht. Wenn hier etwas als quasi-naturhaft dargestellt wird, das in Wahrheit Ergebnis menschlicher Tätigkeit ist, dann sind solche Äußerungen vor allem eines: ideologisch. Denn natürlich erleichtert die Digitalisierung nicht allein unser Leben, sondern entzieht uns in zentralen Hinsichten auch die Kontrolle: In sozialen Netzwerken geben wir ständig vielfältige Daten von uns Preis, ohne dass uns das deutlich sein müsste; die sogenannten Big Data Analysen versuchen menschliches Verhalten im gro­ßen Stil zu prognostizieren, ohne dass die entsprechenden Akteure dabei zu Wort kommen würden.

Anders gesagt: Wer digitale Medien benutzt, hat in weiten Teilen das Spiel von Konzernen wie Facebook und Google mitgespielt, gleich, was er dann noch mit ihnen anstellt. Dabei sind Facebook und andere soziale Medien, Brandbeschleuniger des Aufschwungs des Populismus, keineswegs eine bloß problematische Nutzung digitaler Möglichkeiten: Wenn es richtig ist, dass (wie uns die Medientheorie lehrt) Technologien nicht unschuldig sind, so dass ihr schlechter Gebrauch nicht nur an schlechten Menschen hängt, und wenn es so ist, dass Technologien keine abstrakten Möglichkeitsräume eröffnen, sondern immer in konkreten Praktiken, Infrastrukturen und so fort verkörpert sind, so sind die Pöbeleien in Kommentarspalten auf Facebook und die Entmündigung im Zuge des freundlichen Designs dieser Medien kein Unfall, der der Digitalisierung von außen zustößt.

Diese Bemerkungen sind natürlich polemisch. An entsprechende Probleme zu erinnern, ist aber heilsam gegen den in politischen wie journalistischen Diskursen oftmals blind und naiv geforderten Ausbau digitaler Infrastruktur oder gar das Vorantreiben der Digitalisierung in Schulen und Universitäten (so als sei es wichtiger, ein Touchpad bedienen zu können, als einen klaren Gedanken formulieren zu können). Im Folgenden möchte ich die durchaus heterogenen Entwicklungen, die unter dem Lemma der Digitalisierung zusammengefasst werden, aber nicht allein in ihrer ideologischen, sondern auch in ihrer produktiven Dimension würdigen. Damit ist mein Zugriff auf die Fragestellung ein dialektischer (also ein Zugriff, der davon ausgeht, dass dominante gesellschaftliche Entwicklungen in weiten Teilen weder schlicht ideologisch, noch als Ganze positiv zu sehen sind). Im Sinne des Anspruchs einer kritischen Analyse werde ich zunächst etwas zu der Frage sagen, was unter Digitalisierung genauer verstanden werden kann, dann werde ich ihren produktiven wie transformativen Potentialen in unserer gesellschaftlichen Praxis nachgehen und schließlich die Frage stellen, was es für künstlerische Praktiken heißen könnte, sich zur Digitalisierung als einer gesellschaftlichen Realität zu verhalten.

Was ist Digitalisierung?

Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, die unter dem Schlagwort der Digitalisierung gefassten Entwicklungen im Kontext weitergehender gesellschaftstheoretischer Fragen zu verorten. Einerseits können sie in Kontinuität zu bestehenden Praktiken und Medien verstanden werden; so könnte zum Beispiel das Internet als eine neue, interaktive Textkultur verstanden werden, die aber in der Tradition anderer Praktiken (Briefe, Gespräche usf.) steht; so könnte die digitale Distribution von Musik allein einen quantitativen Wandel der Produktion und Rezeption von Musik darstellen, nicht aber einen qualitativen. Andererseits kann die Digitalisierung als Anbruch eines neuen Zeitalters verstanden werden: Im Rahmen sogenannter computationaler Theorien des Geistes ist schon früh der Versuch unternommen worden, die Funktionsweise des Geistes aus der Logik des Computers zu erläutern; aktuelle Entwicklungen im KI-Bereich versprechen nicht allein, neue Quasi-Akteure digitaler Art hervorzubringen, sondern Akteure zu erschaffen, die dem Menschen in seinen kognitiven Fähigkeiten überlegen sind.

Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass im Rahmen der Übersetzung analoger Informationen ins Digitale scheinbar viele vormals nicht kontrollierbare Parameter etwa von Musik und Bildern nun in deutlich mehr Aspekten bearbeit­bar werden – oder, wie radikale Vertreter der zweiten Option behaupten würden, in dem, was sie eigentlich sind, allererst verständlich werden. Übersetzung ins Digitale heißt zunächst einmal Übersetzung von ursprünglich in anderer Weise existierenden Gegenständen (als Klänge, Bilder, Worte usf.) in binären Code und damit in diskrete Elemente. Der Philosoph Nelson Goodman hat den Unterschied zwischen analog und digital an einem ungewöhnlichen Beispiel illustriert: Während es bei jedem skalenlosen Quecksilberthermometer immer noch ein weiteres Element neben zwei Elementen gibt (man kann hier ins Unendliche differenzieren), gibt uns ein digitales Thermometer durchgängig diskontinuierliche Elemente an (meis­tens mit einer Nachkommastelle); es gibt hier nicht nur alleine eine Messgröße, sondern ein vorgängig gegliedertes Schema, in das alles übersetzt worden ist. Während das analoge Arbeiten selbst durchaus nicht einfach mit gegebenen Elementen operiert, sondern diese auch manipuliert (indem etwa auf Band aufgenommene Klänge zerschnitten und neu verbunden werden), so ist es doch hier der Fall, dass diese Operationen zumindest mittelbar immer noch mit den in Frage stehenden Elementen selbst konfrontiert sind. Das ist im digitalen Arbeiten potentiell anders: Auch wenn uns die Interfaces etwas anderes suggerieren, haben wir es hier letztlich mit der Modifikation von Code zu tun.

Jenseits der Reduktion

Die eben skizzierte Alternative ist natürlich eine falsche Alternative: Die Digitalisierung ist nicht einfach eine Variation dessen, was es vormals schon gab – aber ebenso wenig erlaubt sie es, wie Nick Bostrom und andere philosophische Apologeten des Silicon Valley behaupten, zu einem tieferliegenden Wesen der Dinge vorzudringen. Denn gerade die in der zweiten Alternative behauptete Reduktion ist irreführend: Bilder, Klänge und Worte verschwinden in ihren Eigenarten auf der Ebene des Codes beziehungsweise um sie weiterhin als Bilder, Klänge und Worte zu behandeln, müssen hier andere und zwar ästhetische (und im letzten Fall zumeist auch semantische) Beschreibungen vorausgesetzt werden, die keineswegs eines Tages in einer rosigen digitalen Zukunft verzichtbar werden. Gerade die Debatten um den Aufschwung der KI sind von groben Missverständnissen gekennzeichnet; schon der Turing-Test funktioniert nur dann, wenn wir uns selbst bereits vorgängig gewissermaßen zu Maschinen gemacht haben, so dass plötzlich die Frage, ob wir im Erkennen einen Unterschied machen können, zentral wird und nicht länger die Frage, was das eine und was das andere ist.

Kurz gesagt: Auch die sinnlichen Eigenarten von Klängen und Bildern wie die semantischen Dimensionen von Worten verschwinden nicht unter den Bedingungen der Digitalisierung, sondern werden von ihr weiterhin vorausgesetzt; die Manipulation des Codes ist keineswegs ein Vordringen zum Wesen des Klangs und Bildes; die ästhetische Seite der Dinge ist keine bloße Oberfläche des Codes. Entsprechend ist ein globales Klagen über das Verschwinden der haptischen wie sinnlichen Realität in Zeiten von Digitalisierung und Virtualität nicht berechtigt; darin steckt genauso sehr die Warnung vor einer drohenden Gefahr wie ein reaktionäres Festhalten an überkommenen Formen des Komponierens und Interpretierens. Die Produktivität der Digitalisierung besteht nämlich nicht zuletzt darin, dass sie neue Formen ästhetischen Produzierens in die Welt bringt.

Dass sie theoretisch überfrachtet werden, wenn man sie als ein Vordringen zum Wesen der Dinge versteht, macht sie nicht zu einer Variante dessen, was schon vorher da war.

Ästhetisches Produzieren als Gegen-Digitalisierung

Die eingangs formulierte ideologiekritische Lektion darf darüber allerdings nicht vergessen werden: Die Digitalisierung meint auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Lage, die es den Einzelnen nicht länger möglich macht, strategisch auswertbare Aspekte ihres Verhaltens zu durchschauen.

Wer angesichts dieser Lage, in der digitale Infrastrukturen in weiten Teilen den Regeln der Berechenbarkeit unseres Verhaltens und der Akkumulation des Kapitals gehorchen, sich in seiner künstlerischen Praxis der digitalen Werkzeuge bedient, ohne sie in der eigenen Arbeit zugleich kritisch zu reflektieren, arbeitet selbst an der eingangs ausgewiesenen ideologischen Verkürzung mit. Wenn es so ist, dass die mit dem Begriff der Digitalisierung verbundenen Veränderungen einen qualitativen Wandel unseres Zusammenlebens meinen, dann kann man sagen: Gegenwärtige Phänomene ästhetisch zu reflektieren heißt, in diesen nach Bruchpunkten, Neu- und Redefinitionen zu suchen. Ein künstlerischer Umgang mit der Digitalisierung wäre damit immer auch Ausdruck einer Gegen-Digitalisierung: Er führt eine andere Logik gegenüber dem bruchlosen Funktionieren digitaler Berechenbarkeit ein. Um ein schon klassisches Beispiel zu nennen: Wenn in Johannes Kreidlers „ChartsMusic“ Börsenkurse verschiedener Unternehmen in das Musikprogramm „Songsmith“ eingegeben werden und auch die Zahl der Toten GIs im Irak-Krieg mit Waffenverkäufen von Heckler & Koch hier auftaucht, so entwickelt die Arbeit nicht allein dadurch eine abgründige Pointe, dass sie eine Kritik an einer falschen Unterscheidung gesellschaftlicher Realität und autonomer Kunstpraxis darstellt, sondern dass das digitale Programm hier gewissermaßen die Maschine der Gleichsetzung des Ungleichen wird.

Aus diesem Grund sind im Kontext der Kunst jüngst nicht allein verstärkt hybride Arbeitsformen zu beobachten: Digitale Techniken werden mit analogen Mitteln betrieben, analoges Arbeiten auf der Ebene des Codes fortgesetzt. Vielmehr erklärt sich u u daraus auch das künstlerische Interesse an jüngeren Entwicklungen im Bereich der KI (ich denke hier unter anderem an die Arbeiten von Sandeep Bhagwati, in denen auf komplexe Weise menschliche Akteure mit nicht-menschlichen Akteuren verbunden werden und voneinander Anstöße erhalten). Charakteristisch für die jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich ist, dass sie nicht länger von der Struktur des Algorithmus bestimmt sind: Im Falle sogenannter GANs, Generative Adversarial Networks, interagieren zwei Programme, die auf große Datensätze Zugriff haben, nicht länger in einer Weise miteinander, die quasi-mechanistisch zu erläutern ist.

Wenn sie dabei Bilder generieren, die täuschend echte Gesichter zeigen, so ist das nur unzureichend anhand des Begriffs des „Lernens“ zu beschreiben. Aber in diesen Ergebnissen steckt eine produktive Unheimlichkeit: Entsprechende Bilder sind das Ergebnis einer anderen Form des Produzierens als menschlichen ­Tätigseins. Ironischerweise könnte eine Integration entsprechender Mittel in die eigene künstlerische Arbeit damit in die Tradition der Genieästhetik eingereiht werden, die davon ausging, dass im Hervorbringen des Kunstwerks etwas im Subjekt am Werke ist, was selbst nicht länger der Struktur und Logik der Subjektivität gehorcht. Auch wenn dieses unbestimmte Moment allen künstlerischen Produzierens damit von den Infrastrukturen der Digitalisierung kolonialisiert wäre, würde es doch als unbestimmtes Moment nicht verschwinden.

In dieser Weise könnte nicht allein die Integration analoger und digitaler Formen in ihrer Inkommensurabilität, sondern auch gegen den Strich verwendetes machine learning Ausdruck eines zeitgenössischen ästhetischen Produzierens sein.


Daniel Martin Feige ist Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Demnächst erscheinen seine Bücher „Musikästhetik für Designer“ und „Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie“.

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