Schon im 18. Jahrhundert wurde erkannt, dass die Musizierpraxis zu Erkrankungen des Spielapparates führen kann. Die Frage, wie diese entstehen und zu vermeiden beziehungsweise zu therapieren seien, hatte jedoch erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Eingang in den klavierpädagogischen und methodischen Diskurs gefunden. Seitdem sind gut einhundert Jahre vergangen. Doch trotz diverser Forschungsarbeiten, Veröffentlichungen und der Erfahrung mehrerer Generationen von Klavierpädagogen und Pianisten scheint sich bis zum heutigen Tage keine einheitliche Methode gefunden oder durchgesetzt zu haben, mit deren Hilfe das Auftreten von Spielschäden bei Musizierenden aller Begabungsstufen grundsätzlich zu verhindern beziehungsweise zu therapieren wäre. Da der Wissensbedarf gerade im Sinne der Prävention nach wie vor groß ist, widmete sich das Klavierpädagogische Forum 2004 in Halle dieser aktuellen Thematik.
Prof. Elgin Roth, Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller, Dr. med. Hans-Christian Jabusch, Stefan Blido und Manfred Seewann waren gekommen, um auf Einladung und unter der Moderation von Prof. Dr. Marco Antonio de Almeida zu referieren. Bereits in den Themen der einzelnen Referate zeichnete sich ein breites Spektrum an Präventionsmöglichkeiten ab, von medizinischen Forschungsergebnissen bis hin zu anwendungsorientierten Übungen am Klavier. Eine große Anzahl von Teilnehmern aus dem In- und Ausland war nach Halle gereist, um sich diesen Themenkreis nicht entgehen zu lassen.
In seinem Eingangsstatement formulierte de Almeida bereits das Idealziel, das den Rahmen für das Forum geben sollte: „Prävention im Unterrichtsraum statt Behandlung in der Arztpraxis“. Als Hauptparameter seines Präventionskonzepts benannte er die notwendige Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen körperlicher Zentralkoordination einerseits, und Armgewichtskontrolle, Bewegungsschnelligkeit, Kraftentfaltung sowie Ausdauer beim Spiel anderer- seits, um als Interpret das vorgestellte Klangresultat im Einklang mit dem Körper erzielen zu können.
An diese Bedingungen schloss Elgin Roths Präsentation ihres neuen Buches „Die Wiederentdeckung der Einfachheit. Frédéric Chopins und Ludwig Deppes pianistisches Ideal und seine Bedeutung für den Klavierunterricht“ nahtlos an. Elgin Roth machte in ihrem passionierten Vortrag deutlich, dass sowohl Chopin als auch Deppe bereits vor mehr als 150 Jahren das physiologisch begründete Spiel als Bedingung zur Verwirklichung ihres Kunstideals angesehen hätten. Chopin und Deppe glichen sich in ihrer „Forderung nach Aufrichtung, Bewegungsökonomie, ganzheitlich koordinierten statt vereinzelten, isolierten Bewegungen“ zwecks Erzielung eines „mühelosen, leichtgängigen Spiels“ sowie eines „schönen, vollen, runden und edlen Klanges“.
Indem sie diese Elemente zum Hauptaugenmerk ihres Unterrichts machten, haben Chopin und Deppe zum einen als Pädagogen in ihrer Zeit viele Schüler von Schmerzen und Spielschäden bewahrt, zum anderen über ihre Zeit hinaus Kriterien benannt, die auch heute noch im Unterricht zur Prävention und Therapie von Spielschäden zur Anwendung kommen müssten, so Elgin Roth.
Neurologie des Musizierens
Im Bemühen, all die möglichen Faktoren zu berücksichtigen, die im konkreten Fall an einer Beeinträchtigung des Spiels Anteil hatten, kommt es zwangsläufig zu einer Überschneidung von physiologischen, psychologischen, neurologischen sowie psychosomatischen und sozialen Aspekten. Grundlagenforschung in diesem Bereich führt seit Jahren das Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin in Hannover durch. Eckart Altenmüller und Hans-Christian Jabusch erklärten in ihren Referaten die grundlegenden neurologischen Abläufe beim Musizieren und zeigten typische Verhaltensmuster auf, die zu Überlastungsverletzungen führen. Auch aus medizinischer Sicht sei die Prävention der Therapie vorzuziehen, medikamentöse Behandlung nur das letzte Mittel in einem gescheiterten Selbstheilungsprozess.
Ein direkter Zusammenhang zwischen Bewegungsablauf und dessen Auswirkung auf den Körper bestehe zweifelsfrei, doch sei es im Moment unmöglich, wissenschaftlich – im Sinne einer messbaren Größe – festzustellen, was einen idealen Bewegungsablauf ausmache. Das pädagogische System der Weitergabe von Erfahrung und Wissen über Jahrhunderte sei wissenschaftlichen Messverfahren noch weit überlegen.
Zwar konnten beide Mediziner den eingangs von de Almeida benannten Bedingungen dem Grunde nach zustimmen, mussten jedoch bei der Frage, wie genau im Sinne der Prävention zu verfahren sei, auf die Fachmethodik verweisen. Die Fachmethodik indessen charakterisiert in ihrer Diversität das Fehlen allgemein verbindlicher Aussagen.
Welchen Weg wählen?
Wie es schon bei Goethe heißt: Das Was musst Du bedenken, wohl aber auch das Wie. Einen Weg, Spielstörungen zu begegnen, stellten Stefan Blido und Manfred Seewann in ihrer Präsentation von Peter Feuchtwangers „Klavierübungen zur Heilung physiologischer Spielstörungen und zur Erlernung eines funktionell-natürlichen Klavierspiels“ vor. Zur Heilung von Spielstörungen müssten alte, falsche Bewegungsmuster verlernt und neue etabliert werden. Der Grundgedanke der Übungen sei, bestehende Überspannung der Muskulatur zu lösen und bewusst zu machen, wie viel beziehungsweise wie wenig Spannung und Kraft tatsächlich das Spiel erfordere.
Die Reaktionen darauf waren durchaus verschieden. Zwar gab es Berichte von guten Erfahrungen, jedoch stellte gerade die Frage nach dem Wie, nach der Art der Ausführung, einen Punkt dar, der für intensive Diskussion sorgte.
Es heißt, viele Wege führten nach Rom. Nur, welchen Weg wählt man, wenn das eigene Spiel beeinträchtigt ist? Das Klavierpädagogische Forum in Halle hat einige Wege aufgezeigt, die beschritten werden können. Doch insbesondere im Sinne der Prävention muss die klaviermethodische Diskussion weiter gehen. Allein in Fragen der Terminologie wäre es dringend notwendig, eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen. Ohne sie scheint es schwierig, sich darüber auszutauschen, wie ein physiologisch begründetes Klavierspiel zu vermitteln sei, um eben nicht erst aus dem Schaden klug zu werden, sondern den Schaden gar nicht erst entstehen zu lassen.