Zunächst mal die Hausaufgaben. Beim letzten Treffen in dem von Zweckmäßigkeit strotzenden Seminarraum im ersten Stock des Instituts für Musik und Medien (IMM) hatte Marc Matter eine Liste mit Links geteilt, deren Inhalte sich die Studierenden des Seminars „Künstlerische Texte“ anschauen sollten. Oder anhören.
Fünf junge Leute sitzen nun also zwischen Lautsprecherboxen und einem Flügel um graue Tische an ihren Laptops und reden. Über eine BBC-Doku von Adam Curtis zum Thema Kolonialismus, die Poesie Margaret Atwoods, eine Folge der ORF-Serie „Sendung ohne Namen“, Anne Waldmans Performance ihres Gedichts „fast speaking woman“. Der harte Kern dieser kreativen Lerngemeinschaft, diejenigen, die gerade nicht krank oder sonstwie unabkömmlich sind. Sie alle stehen studienmäßig gerade ziemlich unter Druck. Nur mehr wenige Wochen verbleiben bis zur Vorlage der Abschlussarbeit des Seminars, das ihr Studium in den vergangenen zwei Semestern begleitet hat. Marc Matter, der Leiter des Schwerpunkts „Musik und Text“ am IMM, hat noch eine Menge „Input“ für das vorletzte Treffen eingeplant. Die Köpfe rauchen.
Zwei Stunden später, inzwischen haben Begriffe wie „Loop“, „Digressionen“ und Lektüre-Empfehlungen auf die Flipchart gefunden, ein praktischer Break: Jeder hat sich kurz mal ein Wort ausgedacht, nach Kriterien, die so subjektiv wie divers sein mögen: Klang, Bedeutung oder Rhythmus, jeder hat sich eine Art der Performance überlegt: Melodie, Stimmlage, Tempo et cetera. Und nun sitzen vier menschliche Klangerzeuger Schulter an Schulter und lassen sich von einem Fünften nach dessen Gutdünken per Berührung an- und ausstellen. Das ist lustig, locker und irgendwann spannend ob des akustischen Ergebnisses. Wörter werden Klang, Rhythmus, Musik; Bedeutung verschwimmt hinter der Mixtur; Performance schafft neue, überraschende Zusammenhänge. Kleine Welten.
Marc Matter, 48, leitet seit zwölf Jahren den Schwerpunkt „Musik und Text“ im IMM, das als Sammelbecken für die Vielfalt künstlerischer Kreativität neben der traditionellen Musiker-Ausbildung an der RSH besteht. Er hat ihn seinerzeit miterfunden. Matter ist ein hagerer Typ mit Szene-Haarschnitt, locker, auffällig unarrogant, intellektuell und empathisch. Mit den Studierenden pflegt er ein unanbiederndes „Du“.
Zwischen Musik und Sprache
Matter umschreibt sein Lehrangebot auf der Hochschulseite so: „Die Überschneidungen und Spannungen zwischen Musik und Sprache, zwischen Klang und Text sind vielfältig und ergeben ein eigenständiges Feld, das unterschiedlichste Herangehensweisen integriert. Bei der Lehrveranstaltung „Künstlerischer Text in Musik, Klangkunst, Film und Hörspiel“ geht es darum, Formen des künstlerischen Arbeitens mit Text, Sprache und Stimme auf Klang- und Medienprojekte hin zu erarbeiten. Ein weiter Rahmen von Textformen kommt dafür in Frage: von konkreter Poesie zum experimentellen Hörspiel, von Konzeptkunst zum Songtext, von historischer oder dokumentarischer Archivarbeit zu Mixed-Media-Arbeiten oder improvisierten Spoken-Word-Performances.“
Im musikalisch-technisch-künstlerisch grenzüberschreitend aufgestellten Institut für Musik und Medien stellt Matters künstlerisch-wissenschaftlicher Hintergrund ein Angebot dar, von dem sich Studierende diverser Fachrichtungen angesprochen fühlen. Matter arbeitet auf dem Gebiet der Lautpoesie und Wortkompositionen, der Musikalität des Sprechens, forscht über neue Formen von Dichtung im digitalen Zeitalter, zu der gerade an der Uni Hamburg seine Promotion entsteht, ist Mitglied des Klangkollektivs „Institut für Feinmotorik“. Seine vielfältigen praktischen und theoretischen Erfahrungen mit akustischer Dichtung, experimentellem Hörspiel, konkreter Poesie, Medientechnologie als Werkzeug der Literatur, Collage- und Montagetechniken sind einzigartig.
Matter teilt sich das Lehrangebot in dem Schwerpunkt „Musik und Text“ mit zwei Kollegen: Für „Schreiben über Musik und Klang“ ist Kulturredakteur Philipp Holstein verantwortlich, der Matter (wegen seiner Promotion in Hamburg) zurzeit als Leiter des Schwerpunkts Musik und Text vertritt - Holstein stellte im Februar im „Zakk“ Arbeiten der Studierenden im „Kanon der Gegenwart“ vor; „Narration und Medienästhetik“ ist das Teilgebiet der Medienwissenschaftlerin Waltraud Blischke, die auch die Veranstaltungen im „Hörsalon“ organisiert und dort gelegentlich studentische Arbeiten aufführt. Marc Matter selbst hat im „Salon des Amateurs“ in der Kunsthalle ein Format etabliert, in dem Studierende ihre Projekte vor Publikum vorstellen können.
Text und Sprech-Laute
In unserer Runde sitzt etwa ein angehender Komponist, der an einer Liedvertonung arbeitet, eine Gesangsstudentin, die sich von den Diskussionen über Text und Sprech-Laute zu einem Popsong inspirieren lässt, der in einer Phantasie-Sprache erstaunlich intensive Gefühle ausdrückt – elektronisch bearbeitetes Sprechen wird Rhythmus-Instrument. Eine dritte Teilnehmerin arbeitet an einer Performance, in der sich verschiedene Interpretationen desselben Textes überlagern. Ein Vierter erstellt ein Hörstück aus Interviews über Zukunftsperspektiven, dessen Fragen der Autor nicht nur an Kommilitonen, sondern auch an eine Künstliche Intelligenz gestellt hat. Ein fünfter Student experimentiert mit automatischem Schreiben und Selbstironie. Alle haben ein Exposé vorgelegt, das künstlerische Endprodukt wird auf drei bis fünf Minuten Dauer begrenzt sein. Vom Popsong sind schon anderthalb Minuten vorzeigbar – ein erstaunliches Zwischen-Ergebnis.