Seit 1994 gibt es in Berlin eine spezielle Welle für Deutsche und Immigranten: Radiomultikulti: Ein Rundfunkexperiment, bei dem Musik zunächst im Hintergrund stand. Über die Geschichte und die aktuellen Entwicklungen unterhielt sich die nmz mit der Chefredakteurin Ilona Marenbach und dem Musikchef Tobias Maier.
: Wie ist Radiomultikulti entstanden? Wie kam es dazu, dass der Sender Freies Berlin (SFB) als eine der Vorgängeranstalten des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) dieses Programm eingerichtet hat?
: Radiomultikulti ist damals – getragen von politischem Rückenwind – als dreijähriges Pilotprojekt entstanden. Man wollte sehen, ob es einen tatsächlichen Bedarf für ein solches „Konstrukt“ gab. 1997 wurde Radiomultikulti dann als gelungenes Experiment in den Regelbetrieb des SFB überführt. Radiomultikulti entstand vor dem politischen Hintergrund, dass es zu dieser Zeit in Deutschland Übergriffe auf Asylbewerberheime und auf Immigranten gab - mit zum Teil tödlichem Ausgang. Da hat man hier in Berlin die Initiative ergriffen und gesagt: Wir müssen etwas tun. Der Auftrag damals wie heute: Radiomultikulti will die Integration von Immigranten in die deutsche Gesellschaft unterstützen, das gegenseitige Verständnis von Deutschen und Nicht-Deutschen fördern und das Selbstbewusstsein von Immigranten stärken.
Wir setzen unseren Auftrag mit einem Sendeschema um, das auf drei Säulen beruht: Das Tagesbegleitprogramm auf Deutsch richtet sich an Deutsche und Nicht-Deutsche. Hier findet interkultureller Austausch statt: Wir informieren, es kann gestritten werden, und die Hörer werden unterhalten. Die zweite Säule sind die Muttersprachen-Sendungen am Abend. Ab 17.00 Uhr senden wir die Woche über in 17 Fremdsprachen. Damit sprechen wir zielgerichtet die einzelnen Communities an. „Zielgerichtet“ bedeutet zu berücksichtigen, dass jede Gruppe ganz andere Voraussetzungen mitbringt und eigene Bedürfnisse hat. Die dritte Programmsäule ist die Musik: „world wide music“ ist etwas völlig Neues, das es im Rundfunk so noch nicht gegeben hat.
: Diese dritte Säule hat sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisiert. Ganz zu Anfang war das Musikprofil eher zweitrangig. 1994 ging es vor allem um die Themen des Programms: Wie macht man das, wie baut man das auf? Dann wurde das „Zwischendrin“ profiliert. Damals gab es schon die so genannte Weltmusik oder world music. Sie wurde zu unserer Musik auf Radiomultikulti. Konzeptionell sind wir jetzt nach elf Jahren bei der Bezeichnung world wide music gelandet – in Abgrenzung zur Weltmusik. „World wide music“ ist Popmusik aus aller Welt. Sie verstärkt die Idee, die Integration und auch das Selbstwertgefühl unserer nicht-deutschen Hörer zu stützen. Sie hören bei uns, in einem deutschen Medium, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ihre eigene, beispielsweise türkische oder griechische Musik. Die Anteile müssen ganz fein austariert werden. Unsere Musik soll für alle Hörer sein, auch für deutsche Hörer, die Weltmusik lieben. Die Musik baut Brücken – wie das Wortprogramm. Man hat einen Anteil an Gewohntem und einen Anteil an vielleicht weniger Gewohntem. Diesen Spagat zwischen internationalem und mitteleuropäischem Musikgeschmack versuchen wir zu bewältigen.
: Aber der Bereich „Hochkultur“ der einzelnen Länder, also das, was bei uns zum Beispiel „klassische Musik“ ist, wird in ihrem Sender nicht bedient?
: Nein, wir spielen Popmusik, aber eben keine angloamerikanische Popmusik. Wir haben natürlich ein bisschen „Black Music“. Ansonsten verzichten wir völlig auf die angelsächsische Popmusik, zum Beispiel auf Britney Spears. Wir spielen Musik von Stars, die anderswo groß sind, etwa Shakira aus Kolumbien, die meist auf Englisch singt - wir nehmen die spanische Version. In Spezialprogrammen stellen wir auch traditionelle Musik vor, beispielsweise aus Indien. Diese Musik setzen wir aber nicht im Tagesprogramm ein, weil sie nicht so populär ist.
: Ist Radiomultikulti dann eher ein Jugendprogramm?
: Nein, denn viele Jugendliche stehen – bedingt durch die Hörgewohnheiten – eher auf ganz normale angloamerikanische Popmusik. Bis sich ein Musikgeschmack herausgebildet hat, der darüber hinaus geht, fremde Klänge und andere Rhythmen beinhaltet, braucht es meist ein bisschen Zeit. Unser Hörerspektrum ist altersmäßig schwer einzugrenzen. Es liegt zwischen 25 und 60 Jahren. Es gibt aber auch viele Jüngere, die uns hören.
: Wie kommen Sie an die Informationen über Hörerstruktur und -zahlen?
: Unsere Informationen beziehen wir zum einen aus der Media Analyse, zum anderen haben wir vor fast einem Jahr Stammhörer, Hörer aus dem weitesten Hörerkreis (die, die angeben, unser Programm in den letzten 14 Tagen gehört zu haben) und solche, die Radiomultikulti bisher nicht gehört haben, befragt. Insgesamt hatten wir zu fünf qualitativen Gruppengesprächen eingeladen.
: Was sagt die aktuelle Media Analyse über Radiomultikulti aus?
: Sie besagt, dass wir in der multikulturellen Stadt Berlin auf knapp ein Prozent tägliche Reichweite kommen. In Brandenburg ist die Resonanz geringer. Insgesamt hören uns 19.000 Menschen pro Tag, laut Media Analyse. Unser Nachteil ist, dass die nicht-deutschsprachigen Hörer, die die Muttersprachen-Sendungen nutzen, bei solchen Erhebungen nicht gezählt werden.
: Andere Kulturen sind auch sehr multikulturell organisiert. Spiegelt Radiomultikulti diese Vielfalt wider?
: Thematisch auf jeden Fall.
: Musikalisch auch. Die Musik beziehen wir zum großen Teil aus den Metropolen. Die afrikanische Musik, die wir im Programm haben, kommt aus Paris und in den seltensten Fällen aus Kinshasa. Die nordafrikanische Musik kommt ganz oft aus Marseille oder Toulouse. Natürlich ist auch New York eine wichtige Quelle. Das ist alles ganz kunterbunt gemischt, aber alles schon vorgefiltert durch die vielfältigen Migrationsprozesse, wie wir sie vor allem in Berlin haben. Vielleicht sind wir in Berlin musikalisch nicht ganz so fit, um gleich Weltstars in dieser Szene zu produzieren. Die Musik hat natürlich auch einen sehr starken Symbolcharakter. Hier können sich viele unserer Hörer wiederfinden.
: Haben Sie denn einen bilateralen Zugang, also von der deutschen zu anderen Kulturen, oder wird auch die Kommunikation unter den Kulturen selbst gewünscht?
: Das ist natürlich die Idealvorstellung, aber ich musste mich auch schon von Vertretern der türkischen Community fragen lassen, was denn das ganze Multikulti solle, wichtig sei doch nur der Austausch zwischen Deutschen und Türken. In diesem einen Fall war das schon eine etwas chauvinistische Haltung. In anderen Fällen ist das aber auch nachzuvollziehen. Wenn Ausländer nach Deutschland kommen, setzen sie sich erst mal mit den deutschen Verhältnissen auseinander. Die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen – auf andere Kulturen auch – das kommt vielleicht später. Wir Deutsche haben es leichter, wir sind hier zu Hause und können aus dieser Position heraus auch mal „in andere Fenster“ reingucken. Bei der Musik macht sich das am ehesten bemerkbar. Die Deutschen und Migranten, die schon sehr lange bei uns leben, können sich sehr wohl auf etwas andere Rhythmen und Klänge einstellen, während für Neuankömmlinge erst mal ihr „Eigenes“ wichtig ist.
: Wie ist die Position von Radiomultikulti innerhalb des RBB? Auch die Öffentlich-Rechtlichen legen ja zunehmend auf Quoten wert.
: Unsere Hörfunkdirektorin macht uns keine Quotenvorgabe, und, wie gesagt, ein Programm wie Radiomultikulti wird durch die Media Analyse bisher nicht adäquat erfasst.
: Es gibt also auch keine Rechtfertigungsdiskussionen im Sender?
: Der Radiomarkt ist immer in Bewegung. Jedes Programm muss seine Legitimation immer wieder beweisen und darstellen.
: Im politischen Bereich kommt immer wieder mal das Thema hoch: Deutsch als Leitkultur. Könnte es irgendwann mal sein, dass man sich Radiomultikulti nimmt und sagt: „Diese muttersprachlichen Sendungen schmeißen wir alle raus, weil Ausländer, die nach Deutschland kommen, Deutsch lernen müssen. Wir machen lieber Deutschkurse für Polen oder Bosnier.“ Welche Position vertritt da Radiomultikulti?
: Diese Diskussion flammt immer wieder mal auf. Man kann sicher nicht davon ausgehen, dass nach dem Absetzen von muttersprachlichen Angeboten plötzlich alle Migranten Deutsch lernen. Genauso wenig halten wir mit einer Stunde türkischem Programm am Tag Migranten davon ab, sich in die deutsche Gesellschaft einzufinden. Im Gegenteil: Wir gehen davon aus, dass wir den Prozess beschleunigen, indem wir gezielt über die Muttersprachen-Sendungen Hinweise und Orientierungshilfen geben.
Radiomultikulti hat auch eine gewisse Funktion der Wertevermittlung. Wer hier leben will, sollte sich bewusst für eine demokratische Gesellschaft entscheiden, in der bestimmte Werte gelten wie zum Beispiel Gleichberechtigung oder Religionsfreiheit.
Das sind Werte, die sich nicht unbedingt in den Programmen wieder finden, die unter anderem Türken und Araber über Satellit aus ihrer Heimat empfangen. Dies sind nicht immer demokratische Medien, und was sie senden, hat mit der Realität in Berlin überhaupt nichts zu tun. Den Migranten unsere Gesellschaft, das heißt die Gesellschaft, in der sie leben, nahe zu bringen, sie in den gesellschaftlichen Diskurs einzubeziehen – dafür steht Radiomultikulti.