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Zum dritten Mal dabei: das Symphonieorchester des Konservatoriums Shanghai. Foto: Kai Bienert/young.euro.classic
Zum dritten Mal dabei: das Symphonieorchester des Konservatoriums Shanghai. Foto: Kai Bienert/young.euro.classic
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Die Jugendorchester der Welt

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young.euro.classic – Europäischer Musiksommer in Berlin
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Wenn man den Ort mal für einen Moment vergessen und darüber hinwegsehen würde, dass die meisten von ihnen ein Instrument in der Hand halten – es könnten irgendwelche jungen Leute sein, an jedem Ort des Kontinents. Die typische Geste dieser Zeit: der ausgestreckte Arm mit dem Fotohandy, der Schnappschuss, die Momentaufnahme von dem, worüber man zuhause erzählen wird. Heute erscheinen auf den Displays der Fotohandys Bühne und Ränge des herrlichen Saals des Berliner Konzerthauses, seine Kronleuchter, die Büsten der Komponisten an den Wänden – es sind noch einige Minuten Zeit bis zur Anspielprobe des armenischen Studentenorchesters aus Jerewan. Des Staunens ist kein Ende, bis endlich Sergey Smbatyan, der junge Dirigent ungeduldig die Aufmerksamkeit seines ebenfalls noch jungen Orchesters einfordert.

Festivalalltag – Probenalltag. Wenn nicht gerade in dem etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Saal geübt wird, dann sind es die nachmittäglichen Anspielproben hier im Konzerthaus, bei denen sich die jungen Musiker mit den Bedingungen des Großen Saals im Konzerthaus vertraut machen. Insgesamt 15 Jugendorchester treffen sich zum nun bereits achten Festival „young.euro.classic“. Zweieinhalb Wochen aufregender, mit Musik und Begegnungen angefüllte Tage mit den besten ihres Fachs, die im Verlaufe des zurückliegenden Jahres weltweit ausgemacht und eingeladen wurden. Folglich war auch diesmal nicht nur der musikalische Bogen, der hier gespannt wurde besonders weit und sogar exotisch. Sichtbar wurden auch die verschiedenen Bedingungen, unter denen die Orchester in ihren Heimatländern arbeiten. Interessant die daraus resultierenden verschiedenen Ansätze der Programmgestaltung. Einerseits waren viele Orchester um die Präsentation nationaler musikalischer Traditionen bemüht, andererseits war selbstverständlich das klassische Erbe ebenso im Programm vertreten und gerade hier setzten sich die Orchester hohe Maßstäbe. Besonders hervorzuheben ist die große Anzahl der Erst- und Uraufführungen von Stücken, von denen viele als Auftragswerke des Festivals entstanden.

Beispielsweise das Barockkonzert für Violine und Streicher von Edgar Hovhannisian, das hier als Deutsche Erstaufführung erklang. Ein kraftvolles und lyrisches Stück zugleich, gespielt vom Symphonieorchester des Jerewaner Staatlichen Komitas Konservatoriums, bei dem Sergey Smbatyan auch den Solopart der Geige übernahm. Der Gründer und Leiter ist gerade mal 20 Jahre alt und Gewinner verschiedener internationaler Violinwettbewerbe. Vor drei Jahren hatte er neben seiner Geigenausbildung ein Dirigentenstudium begonnen. Im November 2005 gründete er das Studentenorchester des Konservatoriums und schon drei Monate später fand das erste Konzert statt. In Berlin stellte es sich nun mit interessanten Stücken vor: Ungewöhnlich in der Zusammensetzung des Instrumentariums war zum Beispiel Eduard Mirzoyans Sinfonie für Streichinstrumente und Kesselpauke. Rodion Schtschedrins Bearbeitung der Bizet’schen „Carmen-Suite“ für Streichorchester und Schlaginstrumente schließlich geriet zum Freudentanz für die große Percussionistensektion des Orchesters, das übrigens ganz ohne Bläser angereist war. Alle Musiker sind Studenten des Konservatoriums, das in Jerewan beheimatet ist. Sie hatten in den letzten Wochen ein umfangreiches Probenprogramm hinter sich: fünf Tage die Woche – jeweils fünf Stunden. „Mein Lehrer sagte mir: Wenn du auf der Bühne gut sein willst, dann musst du auf der Bühne üben“, erzählt Sergey Smbatyan. Es ist trotz solcher Anstrengungen für beide Seiten eine komfortable Situation: der junge Dirigent, selbst noch Student am Konservatorium, hat ein „eigenes“ Orchester, mit dem er regelmäßig arbeiten und seine Repertoirevorstellungen verwirklichen kann. Die Studenten wiederum erleben durch das vielfältige Programm und enorme Pensum eine ganz praxisnahe Ausbildung für ihren zukünftigen Alltag als Musiker – wenn er denn einkehren sollte. Gerade in Deutschland stellt sich die gegenwärtige Orchesterlandschaft allzu oft als Ödland für die Träume und Wünsche ganzer Generationen von Hochschulabsolventen dar. Immer schmalere Budgets sowohl für die professionellen als auch für die Laienorchester und die gängige Praxis der Orchesterzusammenlegung beerdigen reihenweise Musikerkarrieren, bevor sie überhaupt begonnen haben.

Von all dem jedoch war in den knapp drei Festivalwochen nichts zu spüren. Unbenommen blieb allen, auch dem Publikum, die herrliche Freude, die große Ernsthaftigkeit und zugleich auch Unbekümmertheit, mit der die jungen Musiker zu Werk gingen. Hoch motiviert und neugierig aufeinander erlebten sie ihre „Kollegen“ der jeweils anderen Orchester. Natürlich wurde auch die Unterschiedlichkeit des musikalischen Niveaus der einzelnen Orchester deutlich. Für Patrick Lange, der das Bundesjugendorchester in diesem Jahr dirigierte, spielte der Wettbewerbsgedanke beim Festival natürlich eine große Rolle, zugleich aber auch, wie er in einem Interview sagte, die Freude am Austausch: „Zu wissen, wie es in anderen Ländern ist, ihre musikalischen Schulen kennenzulernen und damit voneinander zu lernen…“

Dazu freilich gab es in diesem Jahr reichlich Gelegenheit, etwa vom Royal Oman Symphony Orchestra. Klassische Musik im Wüstenstaat? Haydn, Mozart oder Beethoven in einem Land mit gänzlich anderen kulturellen und musikalischen Traditionen? Für Issam EI-Mallah, den musikalischen Berater der Regierung des Oman und Professor an der LMU München durchaus selbstverständlich! In einem Interview beschrieb er die Nachwuchsgewinnung für das Orchester, die sich hierzulande freilich wie ein Märchen aus 1001 Nacht anhört: „Die Musiker findet man in normalen Schulen, man holt sie dann in ein Internat. Dort werden sie auch in den Hauptfächern der normalen Schule unterrichtet, dazu erhalten sie ihren Instrumentalunterricht und sogar ein kleines Taschengeld. Natürlich haben sie Glück, denn die dortigen Lehrer unterrichten sie viel häufiger als in einem normalen Konservatorium.“ Auf die Frage nach der Kluft zwischen der traditionellen arabischen und der klassischen europäischen Musik antwortete er: „Ich würde das nicht miteinander vergleichen. Ich würde das nebeneinander stellen, dann gibt es keine Kluft. Da sind andere Strukturen, Instrumentarien und kulturelle Bedingungen.“ Interessanter Beleg für seine Ausführungen war denn auch das Programm, mit dem die jungen omanischen Musiker aufwarteten: Dmitri Schostakowitschs „Festliche Ouvertüre“, eine „Andalusische Suite für Oud und Orchester“ von Marcel Khalife, weiterhin eine Shanti Priya für indische Violine und Orchester und als weitere deutsche Erstaufführung Hamdan Al Shuailys „The Blessed Renaissance“.

Bereits zum dritten Mal und quasi schon als alte Bekannte des Festivals wurden die Musiker des Symphonieorchesters des Konservatoriums Shanghai zu ihrem Konzert begrüßt: hervorragend geschult, sensibel und temperamentvoll zugleich. Seit seinem 15-jährigen Bestehen hat sich das Orchester ein breites Repertoire westlicher wie auch zeitgenössischer chinesischer Musik erarbeitet. Die etwa 80 jungen Musikerinnen und Musiker zwischen 18 und 28 Jahren – allesamt Chinesen – proben regelmäßig und absolvieren etwa 10 bis 15 Konzerte pro Jahr. Bei dem hohen Standard fast schon erwartungsgemäß hatte das Shanghai-Orchester in diesem Jahr denn auch eine Uraufführung im Programm: Das Stück „Spätherbst für Orchester“ komponierte Guohui Ye als Auftragswerk für young.euro.classic. An ihn ging in diesem Jahr auch der mit 5.000 Euro dotierte Europäische Komponistenpreis der Stadt Berlin. Die Komposition „Spätherbst für Orchester“, so die Jury-Vorsitzende Christiane Tewinkel in ihrer Laudatio, überzeuge durch die Kunst der Instrumentierung, die spannende bogenförmige Anlage und die Fähigkeit, die Empfindung von Zeit zu konzentrieren. Eine elfköpfige Publikumsjury wählte das Werk aus insgesamt 14 Uraufführungen und Deutschen Erstaufführungen aus.

Und so war denn auch eine weitere Premiere in der Festivalgeschichte beinahe schon normal: die Gründung des young.euro.classic Festivalorchesters Deutschland–China unter der Leitung des prominenten chinesischen Dirigenten Muhai Tang. Es setzt sich aus Studenten des Konservatoriums Shanghai und Musikern der Jungen Deutschen Philharmonie zusammen.

Ihre Beitrag zu den Festivalkonzerten dieses Jahres dokumentierten erfolgreich den interessanten Versuch des Brückenschlags zwischen den verschiedenen Kulturen: Stefan Johannes Hankes „Flammengesang“ und Musheng Chens „Traum im Pfingstrosengarten“ wurden als Auftragswerke von young.euro.classic uraufgeführt – flankiert von Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur KV 488 und der Symphonie Nr. 1 c-Moll von Johannes Brahms.
Das Orchester ging im Anschlss an das Festival auf Tournee nach China, wo die Tour durch sechs Städte führte: Qingdao, Nanjing, Wuxi, Shanghai, Beijing und Tianjin. Eine weitere schöne Möglichkeit, die weltumspannende Idee von grenzenloser Kunst zu leben – und mit Sicherheit klicken auch auf dieser Reise die Fotohandys…

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