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Sven Ferchow. Selfie

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Preise immer, Tickets nimmer

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Ferchows Fenstersturz 2024/04
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Sozialismus in Deutschland? Das war doch längst abgehakt, oder? Mauer weg, Parteibonzen in Aufsichtsräten und vor allem: kein jährliches Anmelden, tagelanges Anstehen und dann mit leerem Warenkörbchen gehen müssen mehr für 100g Grützwurst. Ich werde Sie nun enttäuschen. Lesen Sie diese Geschichte. Die ich übrigens für einen Freund erzähle. 

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Der wollte für ein Konzert der US-Band Pearl Jam in Berlin ein Ticket kaufen. Dazu musste er sich Wochen vor Verkaufsstart (siehe Grützwurst) per Email anmelden, um eine Mail zu erhalten, die den Eingang seiner Mail im Registrierungscodezuteilungsticketerwerbverlosungstopf bestätigte. Freilich ohne Gewähr auf eine Ticketerwerbsoption (siehe Grützwurst). Erst wenn die Email von der virtuellen Losfee (schwieriger Begriff in Zeiten feministischer Außenpolitik) ausgewählt würde, bekäme er, mein Freund, einen Registrierungscode zugesendet. Der immerhin und –hoho– dazu berechtigt, überhaupt würdig zu sein, ein Ticket zu erwerben. Am Tag des Vorverkaufsstarts durfte sich mein Freund beim Ticketanbieter einloggen. Und in der Warteschlange anstehen (siehe Grützwurst). Nach 60 Minuten (solange warten Privatpatienten mittlerweile ohne Termin beim Facharzt) ist es soweit. Man darf Tickets buchen. Nach Eingabe des Registrierungscodes. Hat man die einsetzende Schnappatmung ob der Preise (Stehplatz: 175 Euro) in eine Tüte atmend überlebt, hat man zwei Sekunden Zeit, zu kaufen, denn andere wollen ja auch Grützwurst. Oder Tickets. Leider lassen sich die Stehplätze nicht buchen, denn typisch deutsch oder sozialistisch: ES IST EIN FEHLER AUFGETRETEN! Panisch noch die Sitzplätze angeklickt, bekommt mein Freund VIP-Tickets angeboten. Und braucht eine größere Tüte. VIP-Tickets, circa einen Meter hinter den Stehplätzen, gibt es für 699 Euro, könnten aber sichtbehindert sein. Ups, darf man das noch sagen? Wenn ein Flutlichtmasten vor der Birne hängt oder die Dixikloreihe die Sicht versperrt? Egal, den älteren Lesern wird es noch erinnerlich sein. Man geht mit leerem Warenkörbchen nach Hause (siehe Grützwurst). Was also blieb meinem Freund anderes übrig, jetzt da alles umsonst war (Zeit, Emails, Code) und man eine Stunde später sogar ohne Code Rest-Tickets buchen konnte, als gezeichnet von einer akuten Belastungsstörung in seinen PC zu brüllen: „Ihr in Berlin habt’s wohl den Arsch offen“. Aber finden Sie mal einen Veranstalter, der diesen Kartensozialismus transparent erklärt (siehe Grützwurst). Eher treffen Sie auf einen Mitarbeiter im Baumarkt. Aber schuld sind wir. Denn die im Neo-Pauperismus darbenden Künstler verdienen mit ihrer Musik nichts mehr. Weil wir Spotioten unser Leben in Playlists dosieren und dafür geizige neun Euro im Monat rausrücken. So. Und jetzt bitte alle nach Berlin. Und irgendwo laut und mit Überzeugung schmettern: „Käufer, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale kämpft für euch und das Ticketrecht.“ Frau Roth würde sicher filmreif applaudieren.

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