7. November, Köln, ein persisches Konzert: „The Art of Improvisation“, mit Unterstützung des Diwan-Vereins für deutsch-iranische Begegnung. Hossein Alizadeh spielt Tār und Setār, Saba Alizadeh und Behnam Samani spielen Kamāncheh und Tombak. Der berühmte Tār- und Setār-Spieler Alizadeh ist bekannt als innovativer Komponist für neue Ensembles und eleganten Satz für iranische Instrumente. In der persischen klassischen Musik ist er auch sehr beliebt für seine Improvisationen. Und dieses Mal führte der Meister der persischen Improvisationskunst mit zwei anderen Musikern eine exzellente improvisatorische Musik im belgischen Haus auf.
Drei bis sechs Töne auf dem Setār sind all das, was Alizadeh braucht, um dem Publikum und sogar sich selbst die Stimmung zu entlarven. Ein erstes ametrisches Motiv, das sofort wieder hinter die Stille hinein schleicht, lauert eine bis zwei Sekunden auf und eilt in einem neuen Gewand, in einer neuen Form zum Publikum. Das erste, was bekannt gegeben wird, ist der musikalische Modus. Einige Minuten dauert ein solcher Anfang; etwa fünf bis manchmal zehn Phrasen mit kurzen Pausen, ein Versteckspiel aus kürzeren und längeren Motiven. Es wird „Āwāsī“ genannt; bedeutet nicht mehr als „Gesang“, bezeichnet jedoch die ametrische Form. Jedes Motiv anders als das vorangegangene; unterschiedlich in Länge, in Rhythmus und in Dynamik. Für mich ist es der erste Schritt eines Wanderns im Musikalischen. Eine Reise, die mich vom Hier und Jetzt wegzieht und kein Ziel außerhalb ihrer selbst hat. Was mich berührt, ist die begriffslose, nicht analytische, von Ratio unabhängige Anschauung meiner selbst, die hier das Ästhetische ausmacht.
Aufbau der persischen Improvisation
Das Ametrische, das aus unterschiedlichsten Motiven und kurzen Pausen dazwischen besteht, ähnelt kurzen Besichtigungen der verschiedenen Nischen des musikalischen Modus. Musiker und Zuhörer befinden sich in einer musikalischen Landschaft, drehen den Kopf und sehen unterschiedliche Bilder. Es ist die Vorbereitungsphase, die einige Minuten dauert bis die Musik durch eine Phrase in das Metrische hinüber schreitet.
Dies ist ein Aufbau der persischen Improvisation. Sie besteht aus dem Wechselspiel zwischen metrischen und ametrischen Teilen. Das Spezifische daran ist die Rolle der Melodie. Sie steht immer an der Spitze und bestimmt alles. Es gibt keine Akkordfolge, da es keine Akkorde im westlichen Sinne gibt. Der Aufbau der Melodie und die Etablierung der unterschiedlichen Motive entstehen auf Grund der vorher gespielten Melodien. In der Improvisation Alizadehs ist die Melodie frei von jeglichen Metren. Sie kann als taktfrei bezeichnet werden. Wenn es aber metrisch wird, dann soll der Takt den melodischen Phrasen gehorchen.
In der ersten Hälfte des Konzerts spielen Alizadeh und Samani Setār, ein Zupfinstrument mit vier Saiten, und Tombak, eine iranische Trommel. Eine dreiviertel Stunde ohne Pause improvisieren beide Musiker mit geschlossenen Augen. Viel mehr folgt die Trommel dem Zupfinstrument. Sehr aufmerksam muss der Perkussionist das vom Meister Gespielte beobachten, die Elemente seiner Musik aufnehmen und sich das Passende ausdenken und spielen; und all das in kürzester Zeit. Dasselbe geschieht auch in der zweiten Hälfte. Kamāncheh, das Streichinstrument, kommt auf die Bühne und Alizadeh spielt Tār. Ab und zu findet ein musikalisches Gespräch zwischen beiden Instrumenten statt. In der persischen Tradition wird es „Frage und Antwort“ genannt, als ob der eine fragt und der andere antwortet; und dann tauschen sie die Rollen.
Das improvisierend Freie
Nun frage ich mich, wie und wann eine solche Improvisation zustande kommt? In erster Linie dann, wenn dem Virtuosen eine Freiheit zukommt; eine solche, die ihn von etlichem musikalischen Denken, von musikalischen Elementen als eine Wissenschaft des Musizierens, als vorhandene Schönheitskriterien befreit; wenn das Logisch-Musikalische ausfällt; wenn das Spielen und der Umgang mit dem Instrument anstelle des Komponierens als Kompositionsakt funktioniert; dann kann man von einer freien Improvisation sprechen. Es ist die freie, ja sogar die freiste Form des Musizierens. Sie kommt durch eine starke Beziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument, als Teil seines Körpers, zustande. Setār ist seine Kehle; er spricht durch sein Instrument, ohne zu sprechen, er singt, ohne zu singen. Er beschwert sich, freut sich, lächelt und weint, alles jedoch durch sein Instrument und zusammen mit ihm.
Die Mystik
Da erkennt man schon das mystische Merkmal dieser Art. Eine sehr stark mystisch beeindruckte Philosophie liegt dieser Musik zugrunde. Viele nennen es religiös, ich für meinen Teil sehe darin vielmehr Natur als Glaube, vielmehr Landschaft als Religion, und vielmehr Freiheit als Gott und Gebundenheit. Ich halte sie also für naturalistisch. Das mystische Moment zeigt sich aber in einer Natur-Wahrnehmung. Das Mystische verspricht uns nur die Freiheit, die Enthüllung unserer selbst. Es ist ein freier, aus dem Innersten des Musizierenden entspringender Akt, der sich in den Kosmos bewegt. Es ist eine Harmonisierung des Inneren über alle Gefühle und Emotionen mit der Natur, mit dem Universum. Es ist eine Wahrnehmung der Außenwelt, die auf einer Ebene der Selbsterkenntnis zum Vorschein kommt.
Konnte ich das Konzert als ein Mittel zum Genuss empfinden? Nein; obwohl Genuss da war, als wichtigstes Moment von musikalischer Erfahrung überhaupt. Jedoch war es viel mehr als Genuss. Die Musik war wie ein Weg. Ich war der Suchende, sie das Zeigende. Wo führte sie mich hin? Das möge ich später herausfinden.