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Elisabeth Kulman (Carmen), Mélissa Petit (Frasquita), Maria Markina (Mercédès), Florian Spiess (Zuniga), Komparsen. Foto: Brinkhoff/Mögenburg
Elisabeth Kulman (Carmen), Mélissa Petit (Frasquita), Maria Markina (Mercédès), Florian Spiess (Zuniga), Komparsen. Foto: Brinkhoff/Mögenburg
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Carmen, wie sie singt und tanzt – Solide inszeniert an der Staatsoper Hamburg

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Es gibt wahrlich leichtere Aufgaben, als Bizets „Carmen“ zu inszenieren. Beinahe anderthalb Jahrhunderte Rezeptionsgeschichte lasten auf dem beliebtesten Stück der Operngeschichte, Zigeunerfolklore und Flamencoröcke verstellen den Blick auf das Werk ebenso wie die Allgegenwart der Melodien den hörenden Zugang. Für die Neuproduktion an der Hamburgischen Staatsoper hat sich der Regisseur Jens-Daniel Herzog vorgenommen, die ungezählten Firnisschichten abzukratzen und „Carmen“ auf die ursprüngliche Geschichte zu reduzieren, die von der andalusischen Sonne beschienene pittoreske Armut durch die Trost- und Perspektivlosigkeit zu ersetzen, wie sie Prosper Mérimée in der dem Opernlibretto zugrundeliegenden Novelle ausbreitet.

Dafür hat der Bühnen- und Kostümbildner Mathis Neidhardt für alle vier Akte rohe Betonwände als seitliche Begrenzung auf die Bühne gestellt. In der Mitte fällt der Blick mal auf die verschossenen Mustertapeten von Lillas Pastias Kneipe, mal in eine unbestimmte Dunkelheit oder, zu Beginn, auf das riesige Stahltor der Zigarettenfabrik. Dort nehmen während der Ouvertüre die Dragoner Leibesvisitationen an den Fabrikarbeiterinnen vor. Herzog inszeniert diese szenische Exposition präzise an der Vorstellung der Motive entlang und legt die Tonlage für den Umgang der Geschlechter fest. Vulgär geht es zu; Carmen, die natürlich zum Schicksalsmotiv dran ist, wird handfest sexuell begrabscht.  

Ehrensache, dass man sich in Hamburg für die Dialogfassung entschieden hat. Die Beteiligten meistern die langen französischsprachigen Passagen tapfer, trotzdem hemmt die mit ihnen einhergehende Extramühe mitunter kaum merklich den szenischen Fluss. Die Figur des Don José gewinnt durch die Dialoge am meisten Kontur, was Josés Vorgeschichte und auch seine Neigung zur Gewalt betrifft. Leider müht sich Nikolai Schukoff in den ersten beiden Akten hörbar mit seiner Partie. Und auch Lauri Vasar als Josés Gegenspieler Escamillo wirkt stimmlich wie szenisch so blass wie sein stilisierter, verboten glitzergoldener Torero-Trainingsanzug.

Warum Elisabeth Kulman, die mit üppigen schwarzen Locken ohnehin wie das leibhaftige Carmen-Klischee aussieht, auch noch in schwarzen Strapsen in die Zigarettenfabrik muss, bleibt Neidhardts Geheimnis – soviel zum Thema Firnis abkratzen. Dieser Vamp spielt und provoziert jederzeit mit seinen Reizen. Passend dazu lässt Kulman der Figur ein leicht metallisches Timbre angedeihen, doch in der einen kurzen innigen Szene mit Don José leuchtet eine anrührende Weichheit auf. Erst diese beglaubigt, dass Carmen zu Empfindungen jenseits platten Begehrens in der Lage ist. 

Ähnlich nuanciert spielen in guten Momenten die Philharmoniker Hamburg. Wie klingt ein Schreck, wie klingt Verführung? Das illustriert das Orchester aufs Farbigste, auch jenseits der berühmten Solostellen. Alexander Soddy am Pult wartet zwar nicht mit interpretatorischen Neuerungen auf, aber er lässt die Musik natürlich atmen und steuert die Beteiligten musikalisch lebhaft durch den Abend – manchmal allzu lebhaft. Es rumpelt öfters zwischen Bühne und Graben, besonders in den Chorszenen. Das ist der Preis für Herzogs lebendige Personenführung, er bewegt die Sänger eben auch mal fern der Rampe. 

Seine Regieeinfälle zahlen auf das Konzept der allgegenwärtigen Gewaltbereitschaft ein: In Lillas Pastias Kneipe tritt der eifersüchtige Don José den Offizier Zuniga zusammen, und im Zwischenspiel vor dem vierten Akt tut der Anführer einer Kinderbande desgleichen mit einem Jungen, der eine Stange Zigaretten erbeutet hat. Ein desillusionierendes und gerade deshalb schlüssiges Bild.

Dennoch hinterlässt die Inszenierung einen Nachgeschmack jener Sozialromantik, die sie gerade nicht wollte. Wenn man schon nach den Härten der Wirklichkeit fragt und sich die derzeitige spanische Wirtschaftskrise als Folie mehr als anbietet – dann doch bitte mit dem Mut, die Hässlichkeit des heutigen Prekariats zu zeigen: Plastik statt Gusseisen, Crocs statt geblümter Kittel, Vereinzelung statt Zusammenrücken. Mit ihrer Armutsästhetik im Stile der Fünfziger bleiben Herzog und Neidhardt auf halber Strecke stehen.

Die Premiere bekam freundlich-unaufgeregten Beifall und keine Buhs. Es fehlen halt die Widerhaken. Dieses Pferdchen kann schön lange im Repertoirebetrieb mittraben. Aber von einem Haus mit diesem Anspruch hätte man sich eine radikalere Lesart gewünscht.

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