In den drei großen Opernhäusern Sachsen-Anhalts in Magdeburg, Halle und Dessau hat die Spielzeit begonnen. In Magdeburg mit einem ziemlich schrägen „Tannhäuser“, in Dessau mit einem exquisiten Ballett-Doppelabend und in Halle mit einer vom regieführenden Hausherrn Walter Sutcliffe inszenierten „Carmen“. Warum auch nicht mit dieser Auf-Nummer-Sicher Oper beginnen. Noch dazu, wenn es – zumindest laut vollmundiger Statistikveröffentlichung des Hauses – einen Rekord von Erstbesuchern der Oper gibt. Als Einstiegsdroge ist der unverwüstliche Repertoire-Renner von Georges Bizet jedenfalls keine schlechte Wahl. Und für eine Wiederbegegnung mit ihr, von Zeit zu Zeit, ist er es auch nicht. Es hat schon seine guten musikalischen Gründe, dass die Zuschauer dieses Stück so mögen, und dass es einen Spitzenplatz im Weltopernrepertoire hält. Nicht nur die Habanera oder der Auftritt des Stierkämpfers haben Hitcharakter.

v. l. Yulia Sokolik, Chulhyun Kim. Foto: © Anna Kolata
Die Stadt, der Müll und der Tod – Musikalisch leuchtet George Bizets „Carmen“ in Halle im Neonlicht über einer tristen Container-City
GMD Fabrice Bollon und die Staatskapelle machen sich jedenfalls mit Lust auf die Reise in die Abgründe des Spanienklischees à la Française, nie gegen, sondern immer mit den Protagonisten und den Chören. Frank Flade hat den Opern- und Extrachor so einstudiert, dass sie bei allen verordneten, nicht immer nachvollziehbaren Rollenwechseln vokal Kurs halten, was vor allem bei den Damen besonders gut funktioniert. Bartholomew Berzonsky sorgt beim Kinder- und Jugendchor dafür, dass sie zumindest auf der Bühne den Kampf mit der Handysucht auch mal gewinnen.
Musikalisch geht es in eine Welt zwischen Zigarettenfabrik und Kaserne, Schmuggler-Eldorado und Stierkampf-Arena. Die imaginierte südspanische Luft vibriert nur so von Gewalt und Leidenschaft, wenn die Männer Besitzanspruch als Liebe ausgeben und zumindest die Titelheldin dieser Welt der großmäuligen und übergriffigen Machos mit der großen Geste einer geradezu anarchistischen Rebellion entgegentritt und die Freiheit der Wahl, jemanden zu lieben oder eben auch nicht (mehr), entgegensetzt. Übrigens muss sich niemand davor in Acht nehmen, dass er beim Lesen der Übertitel vor einem der in unseren überkorrekten Diskursen tabuisierten Worten (in dem Falle eins, das mit Z anfängt) in Deckung gehen muss. Das ist alles bereinigt. (Dem oben erwähnten Erstbesucher sei deshalb eine Runde Google Weiterbildung empfohlen.)
Dass dieses im Stück angelegte Aufeinanderzurasen von zwei emotionalen Schnellzügen nicht gutgehen kann, sondern für Carmen und dann auch für Don José tödlich endet, liegt musikalisch von Anfang an in der Luft. Im Abglanz der Liebe der Mutter zu ihrem Sohn und im Auftritt von deren Botin Micaëla liegen aber auch Chancen für die ergreifende Berührung, die Oper bieten kann. Und tatsächlich gelingt Franziska Krötenheerdt in dieser Rolle der packendste (und mit dem längsten Szenenapplaus honorierte) Moment des Abends. Wenn sie Don José im dritten Akt bei den Schmugglern noch einmal aufsucht und verzweifelt zusammenbricht, ist das auch ein vokales und darstellerisches Glanzstück, das ein herausragendes Figurenporträt (eigenen Rechts) krönt.

Franziska Krötenheerdt. Foto: © Anna Kolata
Auch Yulia Sokolik zieht für ihre exzellente Carmen, klug einteilend und wohldosiert, alle Register. Für Frank Schönwalds Mode kann sie nichts, sie trägt alle Scheußlichkeiten mit Würde, wird aber wenigstens am Ende mit einem tollen, tiefschwarzen, schulterfreien Abendkleid für ihre Geduld belohnt, bei dem man die verordneten Stiefel (sollte sie die da immer tragen müssen) zumindest nicht sieht. Für eine scheene Leich hat’s gelangt. Auch Chulhyun Kim steigert sich mit seinem Don José vor allem mit mörderisch endender Eifersucht beachtlich. Ki-Hyun Park hat es nicht einfach, da er den großen Auftritt als angehimmelter Stierkämpfer nicht bekommt, sondern als Fight-Club-Brad-Pitt für die Vorstadt mit den Fäusten kämpfen muss. Wirklich Freude macht die Besetzung der kleinen Rollen. Gerd Vogel und Robert Sellier machen als Dancaïro und Remendado nicht nur gut eine frisierte, sondern ebenso singende Schmugglerfigur. Der Auftritt von Linda van Coppenhagen und von Rosamond Thomas ist pures Hör- und Sehvergnügen. Noch dazu, weil sie es hier als Frasquita und Mercédès zu Verkäuferinnen gebracht haben, aber sich dennoch gerne mal, wie ihre Vorfahren, auch die Karten legen. Michael Zehe gibt seinen Zuniga mit lässigem Mafiosohabitus.
Und wo spielt das Ganze nun eigentlich? Im Vorfeld war zu lesen, im Sevilla von heute. Hoffentlich liest das kein Spanier. Sorry, aber hier taugt kein kritischer Unterton (der unisono Jubel für alle am Ende hin oder her). Ästhetisch ist die Bühne, die Kaspar Glarner diesmal gebaut hat, eine Vollbremsung. Man fliegt nur nicht gegen die Scheibe, weil einen die musikalischen und vokalen Gurte im Sitz halten. Wobei der Einsatz der Drehbühne und das langsame Verschwinden und sein Wiederauftauchen von Containern ein hübscher technischer Coup ist, der wenigstens die Qualität der Technik belegt. Und, dass der finale Mord vielsagend und nachvollziehbar in einem abstrakten Arenarund passiert. Aber sonst? Neonlicht über Containercity. Mit Leuchtreklame für Coca und Girls. Mit metaphorischen Müllbergen, die zum Glück wirklich nur als imposante geruchlose Kunstobjekte die gekrümmten grauen Mauern verzieren, die auch einen Metzger beherbergen. So werden Schweinehälften zum Hintergrund für die Habanera, zu der es obendrein nebenbei noch eine Prügelei gibt. Respekt, dass sich Carmen davon nicht aus der Ruhe bringen lässt. Beim Auftritt von Escamillo gibt es auch so einen gut weggesteckten Ablenkungsversuch. Wenn es die Absicht des regieführenden Intendanten Walter Sutcliffe war, mit dieser „Carmen“ mit den diversen Erwartungen und Klischees zu brechen, so ist ihm das gelungen. Kollateralschäden inklusive.
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