Body
Der Schein trügt: Im beschaulichen Weikersheim an der Romantischen Straße genießen nicht nur Sommerfrischler die Schönheiten des Renaissance-Schlosses, nein, hinter den ehrwürdigen Mauern der ehemaligen Fürstenresidenz der Hohenlohe (die schon seit 1965 sommers als Opernwerkstatt der Jeunesses Musicales Deutschland dient) haben sich seit Juni auch Sänger, Instrumentalisten, Kostümbildner, Bühnenarbeiter etc. eingefunden, um die Abgeschiedenheit des Städtchens zu konzentrierter Arbeit an Mozarts „Don Giovanni“ zu nutzen.
Wo im letzten Jahr noch Bauarbeiter das Sagen hatten, sind nach abgeschlossener Renovierung nun andere Töne zu hören - von über 280 jungen Sängern aus aller Welt, die einst im Gießener Stadttheater vorsangen, haben 14 die begehrte Teilnahme am diesjährigen Opernkurs geschafft und sind in einer der beiden „Don Giovanni“-Besetzungen dabei. Daß solche Kurse gefragt sind, wundert nicht, denn rar sind die Möglichkeiten, über die herkömmliche Hochschulausbildung hinaus Bühnenerfahrung sammeln und sich sängerisch weiterbilden zu können. Was Weikersheim aber in diesem Jahr besonders attraktiv macht, ist ein neues, klug durchdachtes Kurspaket: die Probenarbeit wurde zeitlich auf drei Arbeitsphasen ausgedehnt. Im vergangenen Dezember hatte man sich erstmals getroffen und alle beteiligten Sänger mit dem Regiekonzept vertraut gemacht, im Frühjahr dann folgte eine weitere Arbeitswoche mit szenischen Proben, vom 22. Juni bis zur Premiere am 26. Juli schließlich die sechswöchige Hauptphase mit Orchester.
Weniger Streß und Zeitdruck, mehr Intensität und Konzentration bei den Proben. Das neue Weikersheimer Konzept hat sich schon jetzt beim „Don Giovanni“ bewährt, dessen Premiere bei sternenklarer Sommernacht zu erleben war. Bis auf minimale Unsicherheiten überzeugten die Gesangssolisten mit durchweg hohem sängerischen Niveau und professioneller Bühnenpräsenz - so manches routinierte Stadttheater wäre vor Neid erblaßt. Auffallend die straffe Rezitativgestaltung in geschliffenem Italienisch, besonders hier machte sich der Einzelunterricht bei einer italienischen Muttersprachlerin bezahlt. Und Dirigent Lothar Zagrosek, Stuttgarts neuer GMD, leuchtete die emotionale und musikalische Bandbreite der Partitur von fahlen Klängen über Liedhaftes bis zu dramatischem Furor feinnervig aus; die Junge Deutsche Philharmonie, die sich hier erstmals als Opernorchester vorstellte, folgte seinem anfeuernden, temporeichen Dirigat mit beeindruckender Flexibiliät und Transparenz. Und nicht zuletzt die schlüssige, ausgefeilte Personencharakterisierung des jungen freischaffenden Regisseurs Ulrich Skorsky ließ eine sorgfältige Probenarbeit und behutsame pädagogische Betreuung erkennen, schließlich brachten nicht alle Sänger Bühnenerfahrung mit.
Neben Gesangsunterricht, Rollenverständnis und differenzierter Erarbeitung der Charaktere wurde von vielen Kursteilnehmern besonders das von Lise Stumpfögger geleitete Bewegungstraining dankbar genutzt, so von Andreas Czerney, Jahrgang 1967, dem Don Giovanni der Premiere: „Wir haben sehr viel an Bühnenpräsenz und Bühnenausstrahlung gearbeitet, an der Wirkung bestimmter Gesten und daran, was auf der Bühne trägt und was nicht.“
Die schwarz-rote Bühne von Jeanne Kratochwil entsprach mit perspektivisch verschachtelten Schrägen und Treppen ideal den personellen Verstrickungen um den unwiederstehlichen Frauenhelden. Don Giovanni ist in Skorskys Inszenierung ganz spanischer Beau, der freilich die geheimen Sehnsüchte seiner moralinsauren Umwelt gehörig zum Kochen bringt. Dabei wirkte Skorskys Regie vor allem durch ihre Erfassung der Protagonisten in ihrer seelisch-emotionalen Ganzheit: Barbara Zintl war eine anrührend-stolze, doch tiefverletzte Donna Elvira, Annette Pfeiffer gab Zerlina als hinreißend-kokettes Landmädchen, und auch Christian Tschelebiews verschmitzt-pfiffiger Leporello überzeugte. Zu den stimmlichen Entdeckungen aber zählten ganz besonders die Griechin Ismini Giannakis als beherrschte Donna Anna, der Bulgare Vesselin Petrov-Stoykov in der Doppelbesetzung als Komtur und Masetto (wie in der Prager Uraufführung), und der Niederländer Patrick Henckens als edler Ottavio, dessen feiner, geschmeidiger Tenor sicher noch an Volumen und Strahlkraft gewinnen wird.
Vermutlich kann sich keiner der Kursteilnehmer in seiner späteren Karriere jemals wieder mit ähnlicher Hingabe einer Partie widmen, wie diesen Sommer beim „Don Giovanni“ - der Repertoirebetrieb läßt da wenig Freiräume: „Hier in Weikersheim kann man sich wirklich auf eine Sache konzentrieren und ist nicht eingeengt durch festgelegte Probe- und Ruhezeiten“, bringt es Ulrich Skorsky auf den Punkt. Umso wichtiger also sind Oasen wie das zwischen Rothenburg und Bad Mergentheim gelegene Weikersheim; manches Defizit, das die Hochschulausbildung vor allem im szenisch-darstellerischen Bereich hinterläßt, kann hier aufgefangen werden.
Unter Theateragenten jedenfalls hat sich längst herumgesprochen, daß der Opernkurs professionellen Sänger-nachwuchs zu bieten hat - drei der insgesamt zwölf Sänger wurden bereits engagiert. Bleibt zu hoffen, daß sich der zu nur 30 Prozent öffentlich bezuschußte Opernkurs mit einem Gesamtetat von 600.000 DM halten kann. Neben Sponsorengeldern muß die Hälfte des Eigenaufwands allein durch den Ticketverkauf hereinkommen - sieben Freiluftaufführungen werden in dem 1.400 Zuschauer fassenden stimmungsvollen Schloßhof heuer bestritten.