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Parsifal. I. Aufzug. Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Statisterie der Bayreuther Festspiele. Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Parsifal. I. Aufzug. Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Statisterie der Bayreuther Festspiele. Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

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Klangereignis mit Blickerweiterung – „Parsifal“ im dritten Jahr wieder mit Brille erlebt

Vorspann / Teaser

„Parsifal“ ist das spezielle Stück fürs Festspielhaus. Der Satz stimmt bekanntlich auch umgekehrt. Dass Richard Wagner mit seinem Postulat recht hatte, bestätigt sich jedes Mal, wenn das Bühnenweihfestspiel dort auf dem Programm steht. Ganz gleich, was auf der Bühne dazu geboten wird, um daraus ein Gesamtkunstwerk zu machen. Allein, wenn man die drei Vorgänger-Inszenierungen Revue passieren lässt, dann sind die auch ein Beleg für die Kraft dieser Musik. Ob nun Christoph Schlingensiefs multikulturelles Totaltheater, die krachende Deutschstunde von Stefan Herheim oder der Ausflug mit Uwe Eric Laufenberg in den Nahen Osten. Wenn der Dirigent und die Besetzung stimmen (und das ist in Bayreuth per se der Fall) dann hält Wagners Bühnenweihfestspiel stand.

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Seit der Premiere der jetzt in ihr drittes Hügeljahr gehenden Inszenierung von Jay Scheib gilt auch Pablo Heras-Casado als ein Dirigent für dieses Stück an diesem Ort. Bei ihm fließt die Musik wohldosiert und fein austariert. Mit einer Stunde 38 Minuten für den ersten Aufzug geht er in einem zügigen, aber nicht überhastet wirkenden Tempo voran, der Klang füllt das Haus und zieht in seinen Bann. Bei all dem, was auf der Bühne von Mimi Lien in der explodierenden Kostümfarbigkeit von Meentje Nielsen, sowie mit den durchaus eigenen ästhetischen Reiz beisteuernden vergrößernden Nahaufnahmen der live gedrehten Videos (Joshua Higgason + AR Parsifal) passiert, angedeutet oder behauptet wird, behält die musikalische Seite die Oberhand. In einer eher abstrakten Endzeitwelt setzt sie vor allem auf die Wirkung von Farb- und Formeffekten. Bei dem Tümpel, an dem sich die letzte Gralsenthüllung vollzieht und an dem Parsifal das rätselhafte Grals-Kristall fallen und zersplittern lässt, vermisst man in dieser Umgebung allerdings eher die Verbots- und Warnschilder, als dass man freiwillig hineinsteigen oder gar davon trinken würde. Gurnemanz’ Frage an Parsifal „Weisst du, was du sahst?“, lässt sich bei der assoziativen Bilderwelt, durch die hier allenthalben gemessen geschritten wird, gerne vielfach verwenden.

Natürlich sind die von Thomas Eitler-de Lint einstudierten Gralsbewohner ein fabelhafter Chor. Dass Georg Zeppenfeld mit mustergültiger Diktion ein derzeit nahezu idealer Gurnemanz ist, daran gibt es keinen Zweifel. Ein Ereignis ist der neue Amfortas von Michael Volle, der dessen Leiden mit einer erschütternden Wucht und körperlich geradezu spürbarer Präsenz ausstattet. Bei Tobias Kehrer hat Titurel nichts mumienhaftes. Und Jordan Shanahan hat seinen Glamour-Klingsor so verinnerlicht, dass es eine Freude ist, seinem Treiben auf High Heels nicht nur zuzuhören, sondern auch zuzuschauen. Dass Andreas Schager keinen Zweifel daran lässt, dass er längst neben Klaus Florian Vogt und Michael Spyres einer der Wagnertenöre der Festspiele ist, die den Maßstab (bei ihm vor allem an Stimmkraft) vorgeben, versteht sich von selbst und wird von ihm rundum bestätigt. Dass er sich zunehmend auch zügeln kann, kommt als Extraplus obendrauf. Im speziellen Fall ist das auch sinnvoll, denn Ekaterina Gubanova (die in diesem Jahr mit Elīna Garanča alterniert) setzt zumindest am Anfang eher auf feinere Töne, hat aber dann auch die Kraft, zuzulegen. Das Ensemble ist durchweg überzeugend – von den Gralsrittern Daniel Jenz und Tijl Faveyts über die Knappen bis zu den fabelhaften Zaubermädchen in Klingsors Garten.

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Parsifal. III. Aufzug. Ekaterina Gubanova (Kundry), Andreas Schager (Parsifal). Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Parsifal. III. Aufzug. Ekaterina Gubanova (Kundry), Andreas Schager (Parsifal). Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

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Das Besondere dieser Parsifal-Produktion liegt jedoch weniger in ihrem Inhalt (die gänzlich unterschiedlich angelegte Ambitioniertheit der drei erwähnten Vorgängerproduktionen hat Scheib wohl auch gar nicht anvisiert) als am Experimentieren mit den AR-Brillen für eine kleine Gruppe der Zuschauer. Damit wird über diese Brille der Raum erweitert. Jedes Mal, wenn man den Kopf bewegt, erweitert sich der Raum. Verblüffend gut zum Bühnenbild passt das im zweiten Aufzug, wenn Klingsor plötzlich in der Öffnung einer gewaltigen Mauer seines Schlosses steht. Oder, wenn man selbst individuell mit einem Fixpunkt das Grün und die Blüten beim Karfreitagszauber durcheinander wirbeln kann. Auch die berühmte Taube am Ende pariert auf den konzentrierten Zuschauerblick durch die Wunderbrille. Ansonsten stellt sich der Überwältigungseffekt, den man bei der Premiere noch hatte, im Wiederholungsfall (nach einem Jahr ohne Brille und allein mit der klassischen Wirkung der Bühne) nicht wirklich ein. Man bemerkt auf Anhieb das Unvollkommene der Avatare (abgesehen von ihrer szenischen Funktion), fragt sich, wieso die Pfeile, die Parsifal auf den Schwan abschießt, immer noch aus der Tiefe des Raumes auf einen zu fliegen, obwohl das Tier schon (greifbar nah) sterbend vor einem liegt. Die oben zitierte Gurnemanzfrage taucht bei (zu) vielen Bildern auf, die durch den Raum fliegen. Tiere, Gerippe, Pflanzen, Wurzelwerk, eine Schlange, der Mond, Waffen, Hände und Arme ohne Körper, ein gähnender Fuchs auf einer wohl schmelzenden Schneefläche. Eine poetisch herumfliegende Plasktiktüte erinnert (vielleicht) an den Film „American Beauty“, ein hoppelnder Hase vielleicht an das Schlussbild bei Schlingensief. Eindruck machen hübsche surreale Phantasiebilder, die aussehen, als wären sie einem Boschbild entschwebt – Blüten mit kleinen Menschen drin. Wenn dann ein von einer Dornenkrone umkränzter Augapfel durchs Bild schwebt, wenn Kundry gerade ihr erschütterndes „Da traf mich sein Blick!“ singt, dann fragt man sich schon, was eine direkte Bebilderung vermag oder besser lassen sollte.

Das persönliche Fazit der Kritikers nach dem zweiten Versuch mit der AR-Brille ist gespalten: es bleibt der Eindruck, dass vieles vor allem deshalb zum raumerweiternden Zusatzbild wurde, weil man es kann. Nicht, weil man es im Blick auf das Stück unbedingt machen muss. Aber: technisch funktioniert diese Art von Erweiterung der Wahrnehmungsdimension schon ganz gut. „Parsifal“ ist zumindest in der Hinsicht geglückt. Wenn es in einem neuen Versuch mit einem anderen Stück gelingt, jede Bildschirmschoner Ästhetik zu meiden und konsequent von der Musik und der Vorlage aus zu denken, dann kann das die klassische Rezeption zwar nicht ersetzen, aber durchaus ab und an und von Fall zu Fall erweitern.

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