Von den Wiener Festwochen am 7. Juni geht die „QueerPassion“ über das Bachfest Leipzig am 22. August 2025 zum Antwerp Queer Arts Festival in die Oper Antwerpen. Voraufführungen von Johann Sebastian Bachs „Johannespassion“ mit Thomas Höfts revolutionärem Text fanden 2022 bei der styriarte Graz und in Köln statt – alle Auftritte bisher in gleicher Solobesetzung und unter musikalischer Leitung des Alte-Musik-Experten Michael Hell. Am 13. Juni erklang das ambitionierte Projekt beim Leipziger Bachfest und zum parallelen Jubiläum 75 Jahre Bach-Archiv in der Paul-Gerhardt-Kirche des Randalequartiers Connewitz. Eine radikale Bearbeitung mit musikdramatischer Sensibilität.

Das QueerPassion-Projekt hier bei einem Konzert in Utrecht. Foto: Marieke Wijntjes
„Schwulenmord!“ – Thomas Höfts hochaktueller Johannespassion-Text beim Bachfest Leipzig
Einmal mehr ist es der rührige Bachfest-Intendant Michael Maul, der unter dem Motto „Transformation“ bis zum 22. Juni zeigt, wie in der von wucherndem Vergangenheitskult dominierten Klassikszene Leipzigs eine aktuelle wie substanzreiche Programmgestaltung zur erfolgreichen Erschließung neuer Kreise führt. Thomas Höfts „QueerPassion“ ist auf Höhe einer jungen Generation der Rezeption von Alter Musik, in welcher Ensembles nicht mehr dogmatische Direktiven nachahmen und dafür mehr aktive Individualität wagen.
Der Dramaturg, Textdichter und in seiner Arbeit generell queer-aktive Thomas Höft ersetzte die Prosa aus dem neutestamentlichen Johannesevangelium und die wahrscheinlich von Christian Friedrich Henrici (Picander) für die Johannespassion gedichteten Reflexionen durch einen neuen Text. Anstelle jenes „Ecce homo!“, mit dem der römische Landpfleger Pontius Pilatus den gemarterten Jesus der Jerusalemer Volksmenge vorführt, steht bei Höft: „Das Attentat war Schwulenmord.“ Silbe für Silbe und mit perfekter Synergie zu Bachs Vokalstimmen hat Höft den Text erneuert und Beispiele aus der langen Verfolgungsgeschichte queerer Menschen in vier Blöcke gegliedert: Das Attentat in der schwulen Tanzbar von Orlando 2016, die Utrechter „Sodomiten-Prozesse“ und Misshandlungen 1730, die Hinrichtung der trans Person Anastasius Rosenstengel in Halberstadt 1721. Höft endet mit einem Nekrolog für die Opfer antiqueerer Gewalt und dem Ausblick bis zum staatlich sanktionierten Mord in Tschetschenien, Mexico und Russland. „Es ist vollbracht!“, das Jesus-Wort vor dessen Kreuztod, wurde zum faktisch untermauerten „Nichts ist vollbracht.“ Am Ende Ergriffenheit und langer Beifall.
Höft hatte vor einigen Spielzeiten mit der unter anderem in Münster und Leipzig gezeigten „Apokalypse“ Bach-Werke zu einer eindrucksvollen Oper über die Münsteraner Wiedertäufer-Ausschreitungen und -Prozesse zusammengefügt. Maul kreierte jetzt zum 500-Jahre-Jubiläum von Auerbachs Keller eine „Faust“-Wirtshaus-Oper nach Goethe. Und der Thomaskantor Bach selbst hatte selbst bei seinen Kompositionen geistliche und weltliche Texte ausgetauscht und war keineswegs zimperlich bei Mehrfachverwertungen eigener und fremder Tonschöpfungen.
Insofern ist Höfts „Sehet jene Menschen“ konzeptionell legitim und dabei revolutionär. Denn in einigen christlichen Gruppen wird bis heute skandalisiert, wenn Randgruppen institutionelle Teilhabe am für ALLE Menschen gedachten Friedens-, Toleranz- und Liebespostulat des Neuen Testaments beanspruchen. Höfts queere Erweiterung, welche statt der Passion Jesu die lebensbedrohliche Leidens- und Strafgeschichte von nicht heteronormativen Menschen thematisiert, setzt waghalsig wie konsequent den Anspruch des leidenden Jesus als Vertreter und Retter der gepeinigten Menschheit um. Insofern unterscheidet sich Höfts Passion vom Theatertrend von Überschreibungen, durch die aus verschiedenen Gründen in Text, Form, Partitur und Sinn von Sprech- und Musiktheaterwerken korrektiv, ideologisch und dogmatisch eingegriffen wird. Anders als zum Beispiel das Kollektiv Critical Classics, will Höft Bachs originalen Passionstext nicht korrigieren bzw. nach heutigen Diskurskriterien beschönigen und betrachtet seinen kreative Eigenleistung keineswegs als einzige „Glaubenswahrheit“. Bachs originale Musik erklingt so wie in Noten gesetzt – abgesehen von einigen Änderungen, die den Umfang üblicher Aufführungen nicht unterscheiden.
Zum Konzept der QueerPassion gehört das Zusammenwerfen von queeren Laienchören mit dem Grazer Fachensemble Ārt House 17. Zur Leipziger Vorstellung wirken mit Fräulein A.Kapella und der schwule Chor Die Tollkirschen mit Freunden, beide einstudiert von Conny Schäfer. Künstlerisches Ziel war ein „diverser“ Klang, weg von den disziplinierten Einstudierungen professioneller Vokalensembles hin zu größtmöglicher persönlicher Motivation mit bestmöglicher Ausführung.
Packend schon der Beginn: Michael Hell als Dirigent und Cembalist fordert zu fast atonal klingenden Schärfen heraus. Wie eine frisch geschliffene Sense schneidet die Flöte in den Eingangschor „Seht jene Menschen“. Als sinnfällige Lösung erweist sich das von Bach nicht vorgesehene Akkordeon, welches den Kitt zwischen Rezitativbegleitung und dem Instrumentalensemble herstellt.
Die meisten Konsequenzen hatte Höfts neuer Text natürlich für die Partie des hier Erzähler genannten Evangelisten in dessen langen Rezitativen zu den Evangelientexten. Markus Schäfer gestaltet das mit einer Eindringlichkeit und Selbstverständlichkeit, als sei ihm diese Fassung bereits seit vielen Jahren in Geist und Kehle. Mit Emphase setzt Schäfer Koloraturen ein und ist in jeder Sekunde von einer in der Johannespassion selten derart hochdramatischen und emotionalen Präsenz. Die früheren Jesus-Worte und den sonst meist separierten Bass-/Bariton-Part übernimmt der Musiktheater-Souverän Dietrich Henschel, die charismatisch-hochemotionale Susanne Elmark den Sopran und Yousemeh Adjei mit bemerkenswerter Fülle den Altus. Dieses Soloquartett singt auch einige komplizierte Chorstellen. Es gehört mit Ausnahme des Tenors Julian Habermann zur nicht mehr ganz jungen Sängergeneration, was Höfts Aussage noch mehr Nachdruck und sensorische Tiefe gibt.
Vor dem zweiten Teil setzte der Schauspieler Matthias Freihoff einen kurzen Abriss zur Strafbarkeit von Homosexualität und staatlichen Druckmitteln in der DDR. Die Relevanz dieser Johannespassion wird durch aktuelle Entwicklungen in den USA und deren potentielle Auswirkungen auf Europa momentan noch bedeutender.
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