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Brenden Gunnell (Peter Grimes), Chor. Foto: © Kirsten Nijhof.
Brenden Gunnell (Peter Grimes), Chor. Foto: © Kirsten Nijhof.
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Transparente Klangsinnlichkeit – Musikalische Sternstunden mit Benjamin Brittens „Peter Grimes“ an der Oper Leipzig

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Die am Anfang von Benjamin Brittens beeindruckenden Musiktheaterarbeiten stehende, moralische Fragen aufwerfende Außenseiter-Oper „Peter Grimes“, 1945 in London uraufgeführt, wurde zum ersten Mal in der Oper Leipzig in einer Neuinszenierung von Kay Link und unter der musikalischen Leitung von Christoph Gedschold gezeigt und sie wurde auf Anhieb ein überragender Publikumserfolg.

„Welcher Hafen birgt Zuflucht“ ist die ständige Frage von Peter Grimes, dem von den Dorfbewohnern verfolgten und verdächtigten Außenseiter. Sie ist nicht nur maritim-geographisch, sondern auch metaphysisch-existentiell gemeint. „Wer frei ist von Sünde, der werfe den ersten Stein“ lautet der dem Volkszorn Einhalt gebietende Einwurf von Ellen Orford, aber er ist das ethische Motto der ganzen Oper, in der ein geheimnisumwitterter Einzelner aus der Gemeinschaft verstoßen wird und seinen Tod in den Naturgewalten sucht. Es ist eine verstörend, ja beängstigend aufrichtige Oper über einen Fischer, ohne Haus, Besitz und Weib. Zwei seiner Lehrjungen kommen auf nie geklärte Weise ums Leben. Gerüchte und Verdächtigungen machen die Runde. Zwar wird er in einer gerichtlichen Untersuchung von allen Vorwürfen freigesprochen, die die Dorfgemeinschaf, bereit zur Selbstjustiz, allerdings weiterhin aufrecht hält.

Regisseur Kay Link lässt in seiner Inszenierung keine Zweifel offen. Peter Grimes homoerotische Neigungen, aber auch seine Unschuld (zumindest am Tod es zweiten Lehrjungen), ja seine Verzweiflung und Trauer über den tragischen Unfall werden in einem herzzerreißenden Video gezeigt, in dem Grimes verzweifelt weinend den toten Jungen aus den Fluten holt und auf Armen trägt, herzt und zum Abschied küsst.

Es ist beklemmend, wie die Themen Kindesmissbrauch, Homoerotik und Mord im Raum dieses Werkes schweben und nicht nur textlich, sondern auch musikalisch uneindeutig, zwielichtig bleiben in einer auskomponierten Entlarvungskunst fadenscheiniger Moral. „Der Mensch erfand die Moral, aber die Gezeiten haben keine“, sagt der Apotheker Ned Keene. Den Gezeiten, dem Meer an sich hat Benjamin Britten mit seinen vier „Sea-Interludes“, es sind grandiose Orchesterzwischenspiele, Referenz erwiesen, doch er selbst hat unmissverständlich geäußert, dahingehend, dass diese Naturbilder „nichts mit dem Meer zu tun“ haben, „es hat mit den Leuten im Dorf zu tun: Oder nein, diese Leute sind überall gleich, wo sie auch sind.“ Es sind seelische Metaphern, die Sturm, Brandung, Tagesanbruch, Nebel, Mondschein und was noch ausmalen als Äußerungen des Unterbewusstseins, auch als „Allegorien der Fremdheit und Unberechenbarkeit“, so Norbert Abels. Zurecht schreibt der Britten-Biograph: „Die nautische Metaphorik durchzieht das ganze Universum … Grimes beschwört das All, spricht aber vom Meer: ‚Durch der Sterne Gewaltigkeit/zieht auf jetzt/die Wellenwand,/ die unser Schicksal wird./ Feierlich senkt sie sich/in die tiefe Nacht’“

In diesem Spannungsfeld zwischen Mensch und Universum, Individuum und Gesellschaft, Meer und Psyche, Schuldzuweisung und Verdächtigung, Wahrheit und verlogenem Spießertum spielt die dreiaktige Oper samt Vor- und Nachspiel. Kay Link inszeniert assoziativ, surreal, suggestiv, nicht linear oder gar realistisch in einem meeresblauen Raum, der inspiriert sei vom Bild „eines Gemein­schaftsraums, eines arktischen Dorfes. Dem einzigen geheizten größeren Raum im Ort. Hochzeiten, Geburtstage, Kneipenabende, Kino, alles fand dort statt“, so der Regisseur im Programmheft. Er bekennt: „Unser Raum atmet noch seine vordustrielle Vergangenheit. Vielleicht war es einmal der Fischmarkt. Danach wurde das Gebäude womöglich vermietet, vielleicht für Filmdrehs oder Vernissagen. In diesem Bühnenraum spielen alle Szenen unserer Oper.“ Das sind reine Lippenbekenntnisse, man sieht davon so gut wie nichts. Es ist stattdessen ein leerer Raum, der die Bühne beherrscht, darin Plastikvorhänge, ein See­gemälde, das zeitweise durch Meeres-Videos verlebendigt wird. Überhaupt gibt es viele Videos (Tilman König), sie sind nicht unbedingt überzeugend, wenn sie etwa Fischfang, Fischverarbeitung, Statistisches oder Menschlich-Allzu­menschliches zeigen. Marshall Mc Luhans Buch „Global Village“ (aus dem Jahre 1962) „mit seinen prophetischen Gedanken zur Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts“ sei dem Regisseur „mehrfach durch den Kopf gehuscht“, so liest man. Mag ja sein. Befremdlich und wie aus der Luft gegriffen auch sein Bekenntnis: „Wir spielen gegenwärtig. So begegnen wir einer post-maritimen Gesellschaft, alle haben inzwischen andere Jobs im Tourismus oder im Dienstleistungssektor, aber sie halten dafür die Traditionen und die Folklore des ehemaligen Fischerdorfs fest“. Immerhin sieht man aufgeblasene Plastikfische, Gartenstühle, Bade- und Strandartikel und maritimen Kitsch. Das Fest im letzten Akt wird zu einem „Neptunfest“, „eine Art Karneval, bei dem viele Schranken fallen.“ Grotesk phantastische Kostüme, bunte Lichtergirlanden, grelle Perücken und Masken. Man tanzt, schwoft, feiert. Das poppige Lichtdesign von Stefan Jennerich und Michael Röger schafft sinnige Atmosphäre. Die Kostüme von Silke Wey setzen auf Karo und Strick in gedeckten Farben und nautischem Look. Traditionell britisch Akkuratem wird ordinär Sexistisches in Violett und Lack entgegengesetzt. So grell und plakativ kommt Manches in dieser Inszenierung daher. Überwiegend großartig ist die bewegende Chorregie und die subtile Führung der Gesangssolisten. Die Typen britischen Kleinstadt- und Provinzmilieus werden gut getroffen. Die choreografierten Tanzszenen von Oliver Preiß sind eher bodenständig.

So eindrucksvoll disparat die Inszenierung, so (uneingeschränkt) faszinierend ist die musikalische Seite der Neuproduktion, die Christoph Gedschold verantwortet. Seine Affinität zu Brittens intelligenter Tonsprache ist ein Glücksfall. Mit enormer Klangsinnlichkeit und bemerkenswerter Transparenz offenbart er die ganze Vielfalt an Ambivalenzen, Facetten, Schichten, Ebenen und Metaebenen der Musik zwischen moderner Schroffheit und quasi romantischer Emotion. Geradezu rosenkavalierhaft ist das betörende Quartett der vier Frauen, die über den Mann an sich und das ambivalente Männliche sinnieren. Anklänge an Weill, Strawinsky, Richard Strauss und sogar Puccini meint man zu vernehmen. Ein bewundernswerter Spagat zwischen Naturgewalten und Abgründen, Brutalität und Zärtlichkeit, lichten Seelenregungen und borniertem Gruppenzwang in Tönen.

Auch die aufgebotene Sängerriege ist superb. Allen voran in der Titelpartie der Amerikaner Brenden Gunnell, ein kauzig-knorziger, rothaariger Tenor, der wie ein Bilderbuchbrite und -fisherman anmutet. Nicht nur schauspielerisch, auch sängerisch spannt er einen weiten Bogen vom Lyrischen zum Heldischen. Große Gesangskultur und Stimmschönheit zeichnet auch Martina Welschenbach als Ellen Orford, die Stimme der Menschlichkeit und moralische Instanz in diesem Werk aus. Auch Tuomas Pursio, der einen sehr markanten, noblen Captain Balstrode singt. Aber auch alle übrigen der vielen Partien (darunter ein Methodistenprediger, ein Pastor, ein Rechtsanwalt, ein Apotheker und eine matronenhafte Tante) sind mehr als nur rollendeckend besetzt worden.

Das Gewandhausorchester übertrifft sich selbst an (Klang-) Pracht und Präzision, Spieltechnik und Ausdruck. Ich habe die Oper oft gesehen. Aber so eindrucksvoll habe ich sie noch nie gehört.

Zurecht wurde auch der Chor (Leitung Thomas Eitler-de Lint) der Oper Leipzig vom Publikum frenetisch gefeiert. Die Aufführung ist eine Sternstunde.

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