Die Karriere von Frida Leider (1888–1975), einer der berühmtesten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts, kam bereits während des Ersten Weltkrieges in Gang und hielt bis in die späten 1950er-Jahre an. In dieser ersten Grundlagenbiografie beschreibt die Autorin Eva Rieger den Lebensweg Leiders als paradigmatisch für die Musikerexistenz zwischen den zwei Weltkriegen und in der frühen Nachkriegszeit, für eine Epoche, in der Wegsehen und Nichterinnern weit praktizierte Lebens- und Überlebensstrategien sein konnten.
Frida Leider war jahrzehntelang die weltweit begehrteste Darstellerin von Wagners Heroinen, insbesondere der Brünnhilde und der Isolde. Über Halle (1915), Hamburg (1919), Berlin (1923) bis nach London–Paris–Wien (1924), Mailand (1927) und schließlich zur New Yorker Met (1933) vollbringt Frida Leider eine Laufbahn von Weltformat. 1930 heiratete sie den Konzertmeister der Berliner Staatsoper Rudolf Deman, der bis 1930 auch Professor der dortigen Musikhochschule war. Als österreichischer Jude war er bis 1938 zwar geschützt, lebte dann jedoch bis 1946 im Schweizer Exil. Frida Leider verweigerte ein Jahrzehnt lang die von den Nazis geforderte Scheidung und willigte erst 1943 ein, als es für sie eine Frage von Leben oder Tod wurde, hatte aber bis dahin in Kauf genommen, dass ihre glanzvolle Opernkarriere von den Nazis praktisch zerstört worden war.
Eva Rieger beschreibt den Doppelweg einer „jüdisch versippten“ Künstlerehe, in der sich die Partner einig sind, aus Prinzip unpolitisch zu sein und sich anzupassen, ohne jedoch die eigene Seele zu verkaufen. Bis 1938 war dies auch möglich, da Leider für den Nazi-Kunstbetrieb schlicht unersetzlich war. Allerdings wurde sie immer heftiger attackiert; nach dem Aufbau und der Installierung einer Ersatzsängerin, Marta Fuchs, folgte die nahezu vollständige Kaltstellung Leiders. Mit großer Einfühlungskraft schildert Eva Rieger die Schikanen und Zumutungen, denen die Sängerin ausgesetzt war, wobei jede Heroisierung vermieden und vielmehr Leiders „Mangel an Zivilcourage“ kritisiert wird, was einen „verantwortungslosen Irrtum“ hinsichtlich des Endziels des Nazisystems mit sich gebracht habe. Doch an eine Emigration vermochte sie nicht zu denken. Zu ihrer Mutter, für die eine Existenz außerhalb Deutschlands schlicht unvorstellbar war, hatte die Sängerin eine schier symbiotische Bindung. Ihr musste sie beistehen, so, wie sie es mit ihrem Mann unter Aufwendung ihrer fast gänzlichen Habe tat. Doch die Garantie für ihren „Lebensmittelpunkt Stimme“ sah sie in der „schützenden Verbindung zur Mutter, als seien die Stimmbänder so etwas wie die Verlängerung der Nabelschnur“ (S. 226). Für eine Sängerin, für die die Physis Grundlage aller Kunst ist, liegt hier eine psychologische Konstellation vor, an der jedes Urteil nur scheitern kann.
Künstler wie Leider und Deman gehören einer Epoche an, in der man Kunst, Philosophie und Religion übergangslos zu mischen pflegte. Rieger zeichnet diese in der damaligen deutschen Kunst-Elite vorherrschende Tendenz nach, die von den Nazi-Größen zu einer politisch-ideologischen Strategie instrumentalisiert wurde. Deutlich zeigt sich dies am Verhältnis zu Richard Wagner, wozu Rieger Hitler zitiert: „Ich begreife heute, weshalb mir in meiner Jugend gerade Wagner und sein Schicksal mehr sagten, als so viele andere große Deutsche. Es ist wohl die gleiche Not eines ewigen Kampfes gegen Haß, Neid und Unverstand.“ Diese historisch inzwischen als unhaltbar bekannte Ansicht führte zu Hitlers ‚Glauben‘, wie Wagners Rienzi die „Vorsehung“ auf seiner Seite zu haben. Das war jedoch Allgemeingut; man belegte Wagner ständig mit fast theologischen Begriffen, und dies galt auch für Frida Leider. Sie schreibt: „Es gilt, den richtigen geistigen und gefühlsmäßigen Ausdruck für Wagners philosophischen Text zu finden, der so oft an die letzten Hintergründe alles menschlichen und göttlichen Ursprungs rührt. […] Wagner erfordert künstlerische Übermenschen, die Wurzeln seines Schaffens sind ebenso tief in der Erde wie im Weltall verankert“; Parsifal sei „Wagners erhabenstes und heiligstes Werk“ (S. 224). Eva Rieger kommentiert: „Diese fast sakrale Verehrung von Wagners Musik vertraten beide, der Diktator und die Sängerin.“ (S. 225) Rieger zeigt somit, wie wesenhaft die Affinität eines Großteils der deutschen Kunst-Elite zum nationalsozialistischen System war, in dem man die Gegenwart als Welt-Theater zu erleben meinte und alles Andere ausblendete. Rieger zitiert den Frontoffizier Gerhard Boldt, der das Ende im Hitler-Bunker miterlebte: „Sah sich Hitler … als die Zentralfigur einer riesigen, grauenhaft realistischen Wagneroper inmitten der Lohe stehend und wollte alle Deutschen in die Götterdämmerung seines ,Tausendjährigen Reiches‘ mit hineinreißen?“ (S. 170)
In den Nachkriegsjahren musste Leider sich eine neue Karriere als Regisseurin und Pädagogin aufbauen. Letzteres war damals üblich, Opernregie seitens einer Frau jedoch ungewöhnlich – Rieger zeigt dies an den Intrigen Heinz Tietjens gegen Leiders Inszenierungen, die ihm das frühere Sonnenlicht nahmen. Die Bemühungen, Unrecht zu reparieren, waren damals in Deutschland eher bescheiden; in der Kunst wurde im Wesentlichen mit den Gleichen weitergemacht, die vor 1945 das Sagen hatten. Rieger zitiert das „kommunikative Beschweigen“ der damals jüngsten Vergangenheit, was zur eisernen gesellschaftlichen Regel geworden war. Wenigstens konnte Rudolf Deman früh wieder unterrichten, doch zum Professor wurde er erst 1949 ernannt, im Pensionsalter!
Die Stärke des Buches ist, die teilweise Parallelität zwischen Zeitgeist und Ungeist, zwischen politischem Desaster und Leiders Karriere als Normverhalten einer deutschen Künstlerin darzustellen. Die Ästhetisierung der Politik im ‚Dritten Reich‘ ist ein bekanntes Phänomen – es gibt dazu viele Grundlagendarstellungen, auch für die Musik. Doch kommen die Referenzwerke zu oft mit abstrakten Faktengeschwadern einher. Obwohl im Falle Leider-Deman weder Enteignung, Einkerkerung oder Ermordung vorliegen, erlebt man das Zynisch-Unmenschliche wie das gleichzeitig Artifizielle des ‚Dritten Reiches‘ selten so nahe mit wie in Eva Riegers Buch. Sie fährt eine Unmenge seltener Quellen auf; in sprachlich kraftvollen Bildern zeichnet sie den kulturellen Zusammenbruch jener Zeit, der ebenso dramatisch war wie der politische, wirtschaftliche und menschliche. Dies fährt einem selten in dieser Eindringlichkeit unter die Haut. Ein wirklich wichtiges Buch.
- Eva Rieger: Frida Leider – Sängerin im Zwiespalt ihrer Zeit. Unter Mitarbeit von Peter Sommeregger, mit einem Vorwort von Stephan Mösch, Olms, Hildesheim u.a. 2016, 269 S., Abb., € 22,00, ISBN: 978-3-487-08579-1