Palästinensische Künstler hatten vor drei Jahren die Idee, ein umfangreiches, echtes, professionelles Musical zu produzieren: so wurde „Fawanees“ („Laternen“) geboren. Uraufführung war im August 2004 in Ramallah.
Wie sieht eine Kindheit ohne Musik aus? Wie sieht eine Welt für Kinder aus, die in der Schule nicht lernen dürfen, wie man der Musik lauscht, ein Instrument lernt oder in einem Chor singt? Wenige werden später in der Lage sein, sich als Erwachsene durch Musik auszudrücken. In solch einer Welt bleiben Begriffe wie „Konzert“, „Oper“ und „Musical“ für Kinder, die nie vor einer Bühne gesessen und den Darstellern applaudiert haben, unbekannt. Und der Gedanke, selbst auf der Bühne zu erscheinen und vor einem Publikum zu handeln, zu singen und Musik zu machen und Beifall zu erhalten, kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn.
Doch jeder, der den Wert musikalischer Erziehung kennt, weiß, welche Bedeutung und welchen Reichtum sie schenken kann. Aus dieser Erkenntnis über den Wert der Musik und ihre Bedeutung für Kinder und allgemein für die Gesellschaft wurde vor zehn Jahren ein palästinensisches Konservatorium gegründet. Das Nationale Konservatorium hat seinen Sitz in Ost-Jerusalem und zwei Filialen, eine in Ramallah und eine andere in Bethlehem. Dort lernen 440 Schüler ein Musikinstrument spielen.
Vor drei Jahren entschied man sich, dass dies nicht genügt: die Kinder sollen auch in den darstellenden Künsten unterrichtet werden. Auf einer Konferenz palästinensischer Künstler wurde die Idee für eine großangelegte professionelle Musical-Produktion geboren, die es ermöglicht, dass viele Kinder mitspielen und Tausende Leute diese Aufführung ansehen. Dies ist die Geschichte der Geburt von „Fawanees“ („Laternen“) – dem ersten palästinensischen Musical. Die Konzerthalle im Kulturzentrum mit rund 700 Plätzen, „Ramallahs Heiligtum“, hatte man erst zwei Monate vorher eingeweiht und war nun sieben Mal ausverkauft. Sie liegt über einer wilden, hügeligen Landschaft am Rande der Stadt. Ihre Akustik ist sanft und angenehm für die Ohren und ihre guten Proportionen bieten auch dem Auge etwas. Sie ist mit bequemen Sitzen ausstaffiert sowie mit modernem Ton- und Lichtsystem. Sie hat sogar ein mobiles Aufnahmestudio und ein spezielles Kontrollpanel, um die Elektronik zu überschauen – genau wie in raffinierten europäischen Konzerthallen.
Bring die Sonne!
„Fawanees“ gründet sich auf ein Kinderbuch von Ghassan Kanafani, einem palästinensischen Schriftsteller und Essayisten, der 1936 in Akko geboren, 1948 ein Flüchtling wurde, nach Beirut und Damaskus, wo er arabische Literatur an der Universität studierte, und schließlich nach Kuweit weiterzog. Kanafani war der erste palästinensische politische Schriftsteller, und einige seiner vielen Bücher und Kurzgeschichten sind sogar auf Hebräisch erschienen.
„Die kleine Laterne“ ist von Wasin Kurdi, einem in Ramallah lebenden Dichter, in ein Musical mit 28 Liedern für Chor, Duette und Solisten umgeschrieben worden. Das Stück, das vor zwölf Jahren schon in Jenin aufgeführt und in Juliano Mers Film „Arnas Kinder“ dokumentiert wurde, erzählt die Geschichte eines Königs, der im Sterben liegt, zuvor seine Tochter, die Prinzessin, aber noch auffordert, die Sonne in den Palast zu bringen, sonst könne sie nicht Königin sein und das Königreich regieren. Nach seinem Tod versucht die Tochter, seinen Wunsch zu erfüllen, was ihr aber nicht gelingt. Sie verzweifelt. Eines Tages kommt ein alter Mann mit einer Laterne zum Palasttor und bittet um Einlass. Die Tochter verweigert ihm den Zutritt: „Wie magst du nur die Sonne hier hereinbringen, wenn du nicht einmal einem alten Mann mit einer Laterne den Zutritt gewährst?“ fragt er – und ist verschwunden.
Der Prinzessin wird nun bewusst, dass ihr ein Wink gegeben worden ist. Sie versucht, den wundersamen Mann zu finden, aber vergeblich. Deshalb fordert sie alle Laternenträger des Königreichs auf, in den Palast zu kommen. Tausende von ihnen versammeln sich vor der schmalen Öffnung in der Mauer. Es gelingt ihnen nicht, hineinzukommen. Die Prinzessin befiehlt: „Zerstört die Palastmauern!“ Nach dem Fall der Mauern kann jeder eintreten. Damit sind auch die inneren Mauern in sich zusammengefallen, die sie um sich selbst gebaut hat. Das Licht der Laternen, das die Leute mitgebracht haben, wächst und wächst und wird so hell wie die Sonne – so erfüllt sich das Vermächtnis ihres Vaters. Und was die Trümmer der Mauern betrifft – sie werden dazu verwendet, um Schulen und Krankenhäuser zu bauen, die dem Wohl aller Bewohner dienen.
Internationale Mannschaft
„Mit dem Schreiben der Musik begann ich vor zwei Jahren,“ sagt Suhail Khouri, der die Partitur für das Musical schrieb. „Und das musikalische Ergebnis reflektiert meinen Wunsch, mehrere Musikstile mit einander zu verbinden.“ Und tatsächlich ist es möglich, in „Fawanees“ neben der Musik mit westlich harmonischen Strukturen im Geist populärer Musicals auch die Klangfarben der östlichen Musik herauszuhören, auch Swing und sogar ein Solo in traditioneller arabischer Musik, in arabischer Tonart. Khouri – aus Ost-Jerusalem – begann mit sieben mit Musikunterricht. Schon sehr früh fuhr er von Jerusalem nach Ramallah, um Klarinette zu lernen. Er beendete sein Musikstudium in klassischer Musik an der Musikhochschule der Universität von Iowa (USA). Nun wendet er sich mehr und mehr der arabischen Musik zu. Unter anderem ist er Mitglied des orientalischen Musikensembles, für das er auch komponiert. Doch gibt er zu, dass er Musicals besonders liebt, von denen er schon viele gesehen hat: „Cats“ und „Annie get your gun“ und „Les Miserables“… Was ihn an Kanafanis Geschichte angezogen hat, beschreibt Khouri so: „Die vielen Deutungen, die man darin entdecken kann, außer der Kernhandlung. Kanafani schrieb sein Buch vor mehr als 30 Jahren, und er bezog es auf die palästinensische Realität . Das spiegelt sich natürlich auch in der Geschichte von heute wieder.“
Die Spielmannschaft von „Fawanees“ kommt aus aller Welt, die Instrumentation stammt von Bishara Khell aus Nazareth, der Direktor ist Fernando Nope aus Schweden, das Lichtdesign machte Philippe Andrieux aus Frankreich; der Tonmeister ist Issam Murad aus Ost-Jerusalem.
Auf der Bühne sind mehr als 100 Leute, einschließlich eines Kammerorchesters, „Das junge Musikforum Mitteleuropas“. Das Orchester – von Christoph Altstädt dirigiert – kam aus Deutschland – allerdings nicht ohne Hindernisse: Nach dem Offizielle am Ben-Gurion-Flughafen das Ziel der Gruppe erfuhren, wollte man den Spielern den Zugang nach Israel verbieten und befahl ihnen die Rückkehr. Nur energische Intervention bei Botschaften in Israel und Deutschland rettete schließlich die Musiker, nachdem sie fünf Stunden lang reale Ängste ausgestanden hatten.
Glückliches ruhiges Ende
Wenn es wirklich etwas Wunderbares über „Fawanees“ zu sagen gibt, so ist es das hohe Niveau beim Singen, das von den Mitgliedern des Shams-Chores ausgeführt wurde. Anderthalb Jahre intensiver Arbeit machte aus den 58 Kindern, die Mitglieder des Chores sind und niemals vorher auf einer Bühne gestanden waren, zu gewandten Schauspielern. Sie wussten, wie man den Platz der Bühne ausfüllte, wie man koordiniert handelt und tanzt, und wie man die Menge der Requisiten anwendet.
Aber über allem schwebte ihre vokale und musikalische Leistung. Ihr sauberes und klares Singen, ihre Fähigkeit zweistimmig zu singen und die Natürlichkeit, mit der die Kinder sich in das pausenlose und komplizierte Spiel des Orchesters integrierten, lässt einen irrtümlich an einen Chor mit viel Erfahrung denken.
Die Einstudierung hatte die palästinensische Chorleiterin Hania Soudah-Sabbara übernommen. „Das Musical ist die erste vokale Erfahrung der Kinder – wir sprangen direkt wie in tiefes Wasser,“ sagte Soudah-Sabbara. „Nun werde ich Zeit haben, ihren Horizont zu erweitern und ihr Repertoire zu entwickeln. „Fawanees“ endete in festlicher aber ruhiger Weise. „Ich wollte kein bombastisches Finale“, sagte Suhail Khouri, „und ich musste die Idee verteidigen, weil viele Leute anders dachten. Ich wollte Einfachheit und Ruhe, so dass die Leute in der Lage sind, das Theater zu verlassen und sich nicht nur am ,happy end‘ erfreuten, sondern sich danach auch Fragen stellten.“