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Mein Wende-Stück ist noch unaufgeführt

Untertitel
Musikgeschichte(n) aus einem Land, das nicht mehr existiert · Thomas Heyn im Gespräch mit Frank Kämpfer
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Walter Thomas Heyn, geboren 1953 in Görlitz, komponiert in erster Instanz für die Bühne. Er schrieb mehrere Opern, zahlreiche Lieder und Theatermusik. Komposition studierte er bei Siegfried Thiele an der Musikhochschule Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig, er war Meisterschüler von Siegfried Matthus an der Akademie der Künste in Berlin. In der Umbruchszeit 1990/91 gehörte Heyn zum letzten, demokratisch gewählten Präsidium des Komponisten-Verbandes der DDR, seit 1992 führt er den Verlag Neue Musik Berlin. Frank Kämpfer: Die vor allem im Osten Deutschlands verbreitete Unzufriedenheit mit der realen Deutschen Einheit sei als Resultat tatsächlicher oder vorgetäuschter Erinnerungsschwäche zu verstehen. Dies zumindest behauptet der ehemalige DDR-Schriftsteller Günter de Bruyn in seinem Buch „Deutsche Zustände“. Wie gut, Walter Thomas Heyn, können Sie sich erinnern und wie steht es Ihrer Meinung zufolge um das Gedächtnis Ihrer Kollegen von einst? Thomas Heyn: Ich beginne mit einer wahren Geschichte. Es muss Ende 1991 gewesen sein, kurz bevor wir das Berliner Verbandshaus Ecke Leipziger Straße räumen mussten. Damals fanden wir beim Durchforsten der Keller hinter Kisten voller Rotringfüll-Haltern, kostbarer Tinte und schränkeweise Notenpapier ein Manuskript, das mir den Atem verschlug. Jeder, der im Osten Musik studiert hatte oder damit beruflich beschäftigt war, kannte die fünf Sammelbände zur Musikgeschichte der DDR, die sich mit Phänomenen, Gattungen und Komponisten auseinanderzusetzen vorgaben. Hier nun hielten wir plötzlich das Manuskript eines sechsten Bands in der Hand, der die Entwicklung von 1991 bis zum Jahre 2000 beschrieb. Und zwar sehr detailliert, mit konkreten Namen versehen, verfasst von etwa 20 zum Teil sehr namhaften Autoren. Kämpfer: Die Musikgeschichte eines Landes zu lesen, das nicht mehr exis-tiert, könnte im Nachhinein sehr interessant sein. Welche der ausgestellten Prognosen haben sich denn ungeachtet des gesellschaftlichen Umbruchs, also auch unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen eingelöst? Heyn: Kapitel Eins selbstverständlich galt Sinfonischer Musik. Präzise war nachgewiesen, welche „spätbürgerlichen“ Techniken in den 90er-Jahren Anwendung finden würden und welche nicht. Aleatorik beispielsweise war bereits etabliert, jetzt hätte man „laut Plan“ Werke mit hohem Geräuschanteil geschrieben. Bei der Kammermusik kam man zum Schluss, dass die Gattung des Streichquartetts mittlerweile erschöpft und das Bläserquintett im Schaffen eines hier namentlich nicht zu erwähnenden Kollegen zur letzten Krönung gekommen sei. Denkbar wären lediglich nur noch Ergänzungen zum Repertoire, von ungewöhnlichen Instrumenten – bzw. in ungewöhnlichen Kombinationen gespielt. Also im Prinzip das, was heute auf Festivals läuft. Der Abschnitt Lied und Vokalmusik schien mir sehr zurückhaltend formuliert. Die Textkomponente kam nämlich hinzu und damit die Ideologie. Interessanter war der Beitrag zur Kirchenmusik. Hier war im Grunde schriftlich dokumentiert, dass dieser Bereich steigende Bedeutung erfuhr. Sei es durch Orgelmusik oder generell steigende Aktivitäten der Kirche. Bemerkenswerterweise war das ein ideologisch sehr offener Text. Wenn man bedenkt, dass ein großer Teil dieser Artikel vermutlich schon 1986/87 fertig vorlag, dann hatte der Autor wahrscheinlich mitreflektiert, dass vor allem Jugendgruppen der evangelischen und zum Teil auch der katholischen Kirchen enormen Zulauf erhielten. Was die Pfarrer seinerzeit übrigens nicht unbedingt freute. Denn, was da kam, war ja nicht gottesgläubig, sondern allenfalls renitent. Leider durfte besagter Band Sechs nie erscheinen. Inmitten der Manuskripte befand sich ein von allen Autoren unterzeichneter Brief, der besagt, dass die Texte zurückgezogen sind. Kämpfer: Kompositionstechnische Entwicklungen sind in unserem Zusammenhang nur bedingt von Interesse. Gab es in den Texten denn nicht auch Visionen, in welche Richtung es kulturell allgemein weitergehen kann oder soll? Heyn: Auffällig war eine veränderte Ausrichtung. Die gesamte künftige DDR-Musik bezog sich ausschließlich nur noch auf ein einziges Land. Als Leitbilder gab es nicht mehr sowjetische, polnische, skandinavische oder gar amerikanische Komponisten – das Ganze war ein einziger Gegenentwurf zur Bundesrepublik, zu deren Vertretern und Kategorien. Also, etwa in dem Sinne, die BRD hat einen Lachenmann und einen Hans Werner Henze – wen können wir entsprechend entwickeln, und zwar bis in die Stilistik hinein. Oder, wer schreibt uns ein Musical? Das war ungefähr wie im Sport, wo man sich in ähnlicher Art profilierte. Das Problem war aber nicht allein der „Kampf der Systeme“, der im Hinterkopf noch des tolerantesten Musikwissenschaftlers herumgespukt hat, sondern vielmehr die totale Fixierung. Es war sowohl Personage als auch Rollenfach. Kämpfer: Auch Sie, in der Szene und im Verband als junger Komponist auf den Opern-Nachwuchs festgelegt, haben sich künstlerisch auf Deutschland fixiert. Und zwar in Ihrer Ende 1987 uraufgeführten Oper „Krischans Ende“, die sich mit der Dichterfigur Christian Dietrich Grabbes behalf, um aktuelle Fragen zu formulieren. Heyn: Das Stück kam 1987 am Theater in Stralsund heraus, und für mich war es politisch, weil ich das von Ralf Oehme geschriebene Libretto genau zu lesen verstand. Der zuständige Mitarbeiter des Kulturministeriums tat das auch, war aber erleichtert, als er bemerkte, dass man in einer Oper gesungene Texte nur sehr schwer versteht. Stein vielerlei Anstoßes, der uns Autoren aber nie direkt traf, war eine Arie, darin wurde indirekt die Ausreiseproblematik erwähnt: „Gehen oder bleiben / Angst oder Mut/ wer weggeht / sieht zu“ – hieß es da. In der DDR war man trainiert, solche Sätze gut zu verstehen. Aber zwischen den Figuren ging es natürlich um Lebenskonzepte in einem größeren Sinn. Bleibt man in seinem Dorf oder reist man um die Welt – wie erhält man sich sein Potential und bleibt irgendwie kreativ. Die Geschichte hat aber noch einen zweiten Teil. Wolfgang Ansel, damals Intendant am Theater in Plauen, hatte sich um die Nachfolge-Inszenierung bemüht. Diese lief im Frühjahr 1989 und wurde nach der zweiten Aufführung abgesetzt. Die Begründung hieß natürlich wie stets, das wolle „bei uns“ niemand sehen. Ansel hatte die Zeit der Wende auf die Bühne gebracht, ohne es zu ahnen. Das Bühnenbild zeigte einen Bahnhof und Stationsschilder signalisierten, dass ein gefüllter Zug über deutsch-deutsche Grenzen fuhr. Grabbe kam ja schließlich aus Detmold und dorthin – über Leipzig und Erfurt – ging die Fahrt. Schließlich kam Bayreuth, das Ziel aller, die mit Oper zu tun hatten. Übrigens 15 Kilometer von Plauen entfernt, aber unerreichbar. Das Ganze spielte hinter einer Mauer, und ständig blitzten zwischen den Kulissen die Fotografen – was ich damals ganz unpassend fand. Ein halbes Jahr später habe ich genau diese Szenen live im Fernsehen gesehen. Kämpfer: Im Komponistenverband lief die Wende real etwas anders. Für Sie ergab sich eine überraschende Chance, denn Sie wurden plötzlich ins neue Präsidium des Verbandes gewählt. In ein Gremium also, das bisher meist nur altgedienten Kollegen und vor allem politischen Kadern offenstand. Welche Vorstellungen und welche Spielräume hatten Sie da? Heyn: Ich habe bis über die „Wende“ hinaus in Leipzig gelebt, und als die Mauer fiel, besaß ich weder Computer noch Telefonanschluß und selbst der PKW war nur geborgt. Von den vielen Berliner Aktivitäten, die zum großen Teil Telefon-Aktionen waren, hatte ich bis dahin wenig gewusst. Per Post – man beachte das Tempo – kam die Einladung zur nächsten Vorstandstagung, und ich fuhr ganz naiv nach Berlin. Dort kursierte ein Offener Brief, der war bereits mit allen wichtigen Leuten besprochen. Nach dem Verlesen trat der bisherige Zentralvorstand des Verbandes geschlossen zurück, und ein gänzlich neues Präsidium wurde ernannt. Wir zogen uns ins Präsidentenzimmer zurück, und Wolfgang Lesser, der soeben entmachtete alte Mann gab uns Heißspornen Tipps, wie im Sinne der Verbands-Satzung die Revolution durchzuführen sei. Dem Übergangsgremium folgte sehr bald eine Selbstreinigung mit Erklärungen in Sachen IM-Tätigkeit, im März 1990 wurde dann regulär eine neue Verbandsspitze gewählt. Unsererseits gab es Überlegungen, mit einem der damaligen bundesdeutschen Berufsverbände, dem Interessenverband Deutscher Komponisten / Sitz Hamburg zu fusionieren. Um so in Deutschland zwei gleich starke Vereine zu haben, die die Interessen ihrer Autoren gewichtig vertreten. Dieser Plan ist gescheitert – damals war ich der Meinung, das sei durch Intrige geschehen. Heute denke ich, es war eher Gleichgültigkeit. Und auch Unwissenheit unsererseits. Denn dass ein Künstlerverband im Westen anders funktioniert und einen politisch viel geringeren Stellenwert hat als in der DDR, das mussten wir zunächst erst einmal sehr schmerzhaft lernen. Traumatisch war dann, wie wir unseren eigenen Verband abwickeln mussten. Wir haben beispielsweise alle 98 Angestellten entlassen müssen, darunter Leute, die mich ein Jahr zuvor noch zu fördern versuchten, und wir haben mit unserer Unterschrift in Leben eingegriffen und Existenzen in Frage gestellt. Kämpfer: Ein Blick zurück in die konkrete Geschichte: wann wurde der Komponistenverband aufgelöst und warum? Und was ist eigentlich mit den diversen Einrichtungen des Verbandes geschehen? Heyn: Am 20. Juli 1990 hatten wir einen Gesprächstermin im Kulturministerium der Regierung de Maiziere. Dort wurde uns mitgeteilt, dass wir, wie alle anderen Künstlerverbände der DDR damals auch, finanzielle Zuschüsse nur noch bis zum Jahresende erhielten und unsere Institution bis dahin abzuwickeln sei. Der Verlag Neue Musik, 1958 gegründet, ein gigantisches Verlustunternehmen, wurde privatisiert und ging gemeinsam mit der Kreuzberger Edition Margeaux in eine Verlags-GmbH ein. Das Musikinformationszentrum wurde glücklicherweise samt Mitarbeitern vom Deutschen Musikarchiv/Deutsche Bibliothek in Berlin-Dahlem, übernommen. Die 14 Bezirksbüros wurden selbstverständlich geschlossen, die Auslandskontakte gekappt. Die Internationale Musikbibliothek, inzwischen als wichtiges Kulturgut eingestuft, haben wir dem Berliner Senat zum Geschenk angeboten. Vergeblich. In diesem Jahr erst hat ein Verlag sein Interesse erklärt. Das ehemalige Verbands-Heim in Geltow bei Potsdam dagegen ist noch immer eine offene Partie. Es fiel einer Brandstiftung zum Opfer – die Ruine steht auf einem Grund und Boden, der uns nicht gehört, und ist an eine Versicherung verkauft, die damit nichts anfangen kann, weil sich drei verfeindete Erbengemeinschaften nicht einigen können. Der Verband existiert noch im Kleinformat. Seit Jahren hat er in Nordrhein-Westfalen einen sehr aktiven Regionalverband West. Kämpfer: Wie war es eigentlich seinerzeit um die künstlerische Arbeit bestellt? Welche Wirkungs- und Aufführungsmöglichkeiten hatten Sie in den Zeiten des Umbruchs, hat sich Ihr Komponieren verändert, wie haben Sie gelebt? Heyn: Mein persönlicher Stand war 1989, dass gerade mehrere Musiktheater-Stücke gelaufen waren, und Masur hatte im Gewandhaus mein Doppelkonzert uraufgeführt. Außerdem lagen von drei Theatern schon feste Aufträge vor. Selbstverständlich war alles sofort passé und es hieß, umzudenken. Ich habe zunächst nur noch Kammermusik geschrieben, die spielten Freunde im meist sehr kleinen Kreis. Auf einmal sind auch wieder viele Lieder entstanden. Wie damals als Student, als ich in Leipzig für zwei sehr gute Kabaretts komponierte. Die Sängerin Barbara Kellerbauer und mein alter Leipziger Freund Andreas Reimann haben das in mir reaktiviert. Mit einem kleinen eigenen Klassiklabel in Berlin-Kreuzberg war ich für eine bestimmte Musikerszene natürlich auch als Produzent interessant. Auch mein Versuch, Mitte der 80er-Jahre in Leipzig mit einem kleinen privaten Kammermusiktheater in die freie Szene zu gehen, erschien mir jetzt plötzlich in einem ganz neuen Licht. Damals waren wir jung und hatten auf diese Art gegen den Leipziger Theaterzar Karl Kayser rebelliert. 1993 in Berlin war die Form ähnlich, aber die Lage ganz anders. Projekte mit der Truppe Offenbach e.V., Konzerte im Saalbau Neukölln oder ganze Opernbearbeitungen für die Künstler-Förderung in Spandau bedeuteten schlicht und ergreifend, ein Stück weit überleben zu können. Eine engagierte Stadträtin hat mich dazu motiviert. Kämpfer: Unter den neuen Bedingungen haben sich die Musikverhältnisse im Osten gravierend verändert. Wie reizvoll ist für Sie der bis dahin kaum gekannte freie Musikmarkt, auf dem auch einige ostdeutsche Kollegen ja nicht ganz erfolglos sind? Heyn: Speziell in Berlin gibt es ein Überangebot an hochrangigen, meist auch sehr jungen Interpreten. Sie kommen aus aller Welt und ich kann sie engagieren, sofern ich sie bezahlen kann. Das ist einerseits von Gewinn, hat aber eine gespenstische Kehrseite. Es hat nämlich auch mit Inflationierung zu tun. Der Einzelne ist dabei nichts mehr wert. Aber nur für mich ist das neu. Wer im Westen aufwuchs, kannte das schon als Kind. Denn was wir momentan in Dresden, Potsdam oder Rostock als Zerstörung von Kultur und gegen den Osten gerichtet empfinden, ist in Wirklichkeit nur die verschärfte Auswirkung eines Entwertungsprozesses, der schon viel länger läuft. Der Sinnverlust ist für mich persönlich am schlimmsten, der Bedeutungsverlust von Kunst überhaupt. Mein Westkollege Helmut Lachenmann ist mir – obwohl ästhetisch ganz fremd – ein passendes Beispiel dafür. Was Lachenmann kürzlich mit seiner Oper in Hamburg erreicht hat, das ist das Maximum dessen, was ein Komponist in dieser Gesellschaft erlangen kann. Nämlich, an einem erstrangigen Haus ein bisschen gespielt zu werden und zwar nach zehn Jahren Arbeit. Es gibt ein paar Zeitungsartikel danach und einige Rezensionen im Radio und mit etwas Glück ist auch das Fernsehen da. Über den aktuellen Anlass hinaus, hat die ganze Sache keine Bedeutung. Und das finde ich etwas kläglich. Kämpfer: Haben Sie den gesellschaftlichen Einsturz oder Umbau und das dabei Erlebte künstlerisch schon verarbeiten können? Heyn: Mein Wende-Stück ist noch unaufgeführt: „Die Bachantinnen des Euripides“, eine Oper nach Wole Soyinka. Eine gigantische Partitur von 1.500 Seiten. Das Hamburger Körber-Stipendium hatte sie möglich gemacht. Ich habe von 1989 bis 1992 daran komponiert. Das Stück kreist um die Götter der Lust und die Götter des Kriegs, und was das Genre betrifft, so ist es wie bei Soyinka „Ein Fest des Lebens“ genannt. Das Prinzip ist ganz klar: dass Geschichte immer zyklisch und als Katastrophe verläuft. Für Soyinka war das natürlich auf Nigeria gemünzt. Aber bei mir kommt Deutsch-land, kommt Europa nicht vor. Das ist das Stück, das in den Jahren des Umbruchs entstand. Wenn die Zeit dafür kommt, hole ich es hervor.

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