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Kelvin Hawthorne. Foto: Münchener Kammerorchester/Florian Ganslmeier
Kelvin Hawthorne. Foto: Münchener Kammerorchester/Florian Ganslmeier
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Von der Entdeckung heimatlicher Klänge: Minas Borboudakis im Gespräch mit dem Bratschisten des Münchener Kammerorchesters Kelvin Hawthorne

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1992 kam der 1974 in Heraklion, Griechenland, geborene Pianist und Komponist Minas Borboudakis nach München – inzwischen wurde die Isarmetropole seine zweite Heimat. Seit einigen Jahren engagiert Borboudakis sich in der MGNM – der Münchener Gesellschaft für Neue Musik. Für die aktuelle Ausgabe der nmz steuert er im Rahmen der MGNM-Kolumne ein Interview mit dem aus New York stammenden und ebenfalls in München lebenden Bratschisten Kelvin Hawthorne bei.

Mina Borboudakis: Kelvin, du bist in New York geboren und aufgewachsen, bist mit einer Japanerin verheiratet und lebst sowie arbeitest in München seit ende der 80er. Wie kommt das? Wieso München? Ist New York oder Tokyo nicht interessant?

Kelvin Hawthorne: Das Masterstudium in Cleveland habe ich unterbrochen und bin nach Venezuela gegangen, um musikalische Erfahrung zu sammeln. Dort habe ich im Orchester gespielt, das Studium habe ich dann nachträglich fertig gemacht. Als das Zürcher Kammerorchester auf Konzertbesuch in Caracas war, habe ich nachgefragt und herausgefunden, dass eine Bratschenstelle frei sei, dann eine Woche später in Bogotá (ein weiterer ZKO Konzertort) vorgespielt und bin somit nach Zürich gekommen. Von dort aus ist München nicht weit; ich wollte in Süddeutschland oder in der Schweiz bleiben. In dieser Region ist München die führende Kulturstadt; schließlich war mein Weg nach München eine Zusammenkunft von Absicht und Zufall. Mit einer Japanerin verheiratet zu sein, hat mir das Orchester geschenkt: sie spielt seit 1990 auch mit. 

Borboudakis: Deine Tätigkeit beim MKO ist sicherlich sehr erfüllend. Ihr macht sehr interessante Programme und bewegt euch auf höchstem Niveau sowohl bei der Klassik als auch bei den neuesten Werken. Wie ist für dich als Musiker der Sprung zwischen den verschiedenen Epochen? Wir leben schließlich in einer Zeit der Spezialisten...

Hawthorne: Der Sprung zwischen den Epochen ist vorerst äußerst belebend. Es ist ein großes Glück und Privileg, sich so intensiv und ernsthaft mit teils entgegengesetzten Musiken befassen zu dürfen, ohne sich auf die eine oder die andere exklusiv spezialisieren zu müssen. Somit kommt nie Langeweile auf, immer ein begrenztes Repertoire zwischen 1750 und 1900 zu spielen. Jedoch sind in verschiedenen Epochen verschiedene Spielschwerpunkte wichtig. In der Klassik und Romantik ist Klangschönheit ein oberstes Gesetz. In der Neuen Musik braucht man aber ein viel größeres Spektrum an Klangmöglichkeiten bis hin zu Klängen, die in der Klassik für hässlich gehalten würden. Ich finde es immer eine große Herausforderung, die beiden klanglichen Ebenen zu pflegen, besonders wenn sie gleich aufeinander im selben Konzert vorkommen.

Auswahlkriterien

Borboudakis: Nun hast du hier neben deiner Tätigkeit als Bratscher des MKO eine ganze Reihe an eigenen Projekten als Kammermusiker initiiert. Auch als Mitglied der MGNM hast du in der Vergangenheit vieles von Münchner Komponisten gespielt. Vor zwei Jahren hast du einen Feldman Zyklus im Orff- Zentrum München angefangen, das im nächsten Jahr fortgesetzt wird. Aber auch in New York warst du in den letzten Jahren präsent. Wie konzipierst du deine Programme? Wie wählst du die Musik die du spielst?

Hawthorne: Die Programme, die ich initiiere, wähle ich auf verschiedene Weise: Sehr gerne konzipiere ich Programme mit Werken von Komponisten, zu denen ich eine persönliche Verbindung habe. Das klingt vorerst nicht nach einem musikalischen Kriterium. Die Musik des jeweiligen Komponisten muss nicht zwingend genau „mein Stil“ sein, muss aber natürlich ein gewisses Niveau haben. Wenn das vorhanden ist, bin ich grundsätzlich neugierig und interessiert.

Eine Entdeckung für mich in den letzten Jahren ist aber die Musik meiner Heimat, vornehmlich die New York School: Cage, Feldman, Christian Wolff, aber nicht nur die, auch jene davor: Ives und Copland, und die danach: Steve Reich und John Adams. Als ich studiert habe, lebten Cage und Feldman noch; sie waren aber nur bekannte Namen, ihre Musik habe ich kaum gekannt. Auch in den Jahren nachdem ich die USA verlassen hatte, kam ich wenig mit amerikanischen Komponisten in Kontakt. Erst nachdem ich mein Interesse an der zeitgenössischen Musik entdeckt habe, wurde mir bewusst, wie sehr die „Absichtslosigkeit“ der Musik von Cage und Feldman mich anspricht.

Borboudakis: Apropos neugierig sein: Sind Orchestermusiker neugierig? Meine persönliche Erfahrung in den letzten Jahren als Komponist ist es, dass die Orchestermusiker immer neugieriger auf unbekannte Musik werden. Was meinst du als Insider? 

Hawthorne: Der Orchestermusiker, wenn man allgemein von einem sprechen kann, hat sich in den letzten Jahren gewiss sehr verwandelt. Das Muster rückständig, konservativ, desinteressiert stirbt aus. 

Die neue Generation ist offener, neugieriger; Neue Musik ist, wenn nicht immer beliebt, mindestens eine Selbstverständigkeit. Es gibt aber noch Widerstandsbastionen in den großen Orchestern, die ihr Publikum in Sicherheit des 19. Jahrhunderts wiegen wollen.

Borboudakis: Und die Münchner Szene? Wir haben mehrmals zusammen musiziert, aber Du hast auch eine Reihe von Komponisten aufgeführt als Kammermusiker. Widmann, Eggert…

Hawthorne: Die Münchner Szene habe ich in vielen Facetten erlebt und gespielt. Meine ersten Berührungen kamen durch Hans Stadlmair mit Komponisten wie Killmayer, Blendinger und Koetsier, führte dann über Hiller und Kiesewetter, von dem ich sehr viel aufgeführt habe, zu der jüngeren Generation, von der manche, wie Jörg Widmann, Moritz Eggert oder du selbst, überregionale und internationale Bedeutung erlangt haben. Ich erlebe aber eine große Vielfalt in München, bin froh, dass man keine richtige „Münchner Schule“ ausmachen kann.

Borboudakis: Lass uns zurück kehren an deinen Satz über die „Zusammenkunft von Absicht und Zufall“. Ist das eine Philosophie, die du in der Musik auch suchst als Fan von Cage? Inwiefern widerspiegelt sich das Zusammenwirken von Absicht und Zufall in deinem Spiel bei solchen Werken?

Hawthorne: „Zusammenkunft von Absicht und Zufall“ ist zwar wie sich mein Leben entfaltet, jedoch denke ich eher in Absichten. Die werden dann von dem Zufall durchkreuzt. In der Musik suche ich nicht nur solche Werke aus, spiele aber sehr gerne Werke der kontrollierten Aleatorik. Um zu Cage zurückzukommen: ein wunderbares Bespiel dieser Technik sind seine Number Pieces: die Stücke werden mit Stoppuhr gespielt. Cage notiert einen Zeitraum, in dem man ein bestimmtes musikalisches Material, meistens nur ein oder zwei Töne, spielen soll. Man kann auf die anderen Spieler reagieren, man kann bewusst darauf nicht reagieren. Es kommt jedes Mal ein anderes Stück heraus, aber, da das musikalische Material vorgegeben ist, der Zeitraum jedoch weniger, ist es immer aber dasselbe Stück, dann aber auch nicht. In diesen Stücken entsteht im besten Fall eine zeitlose Weite, die einzigartig ist.

Wegweisende Pioniere

Borboudakis: Natürlich sind die Pioniere des 20. Jahrhunderts für unsere Generation wegweisend! Ohne sie gäbe unsere Musikwelt nicht in der Form wie sie heute existiert. Ich habe den Eindruck, dass all die Anstrengungen eines Lachenmann, Ligeti, Boulez oder Cage erst in den letzten 10 bis 15 Jahren zur Geltung kommen und zwar beim Publikum, Musiker und Organisatoren. Parallel sind sie für uns jüngere Komponisten, die die jeweilige frühere Klangrevolution als selbstverständlich und notwendig betrachten, eine „Plattform“ um Neues darauf und daraus zu schaffen. Wie erlebst du es als MKO Mitglied und als Kammermusiker? Hat sich Neue Musik von Barrieren befreit? 

Hawthorne: Von allen Barrieren hat sich die neue Musik noch nicht befreit, auch wenn sie weiter auf dem Weg dahin ist. Es ist erfreulich, dass Ligeti, Lachenmann, Boulez und Cage langsam so etwas wie Klassiker sind; vor 40 Jahren gab es die langsame Umwandlung in der Akzeptanz der Musik Bartóks und Strawinskis. Es ist immer noch sehr selten, dass Neue Musik im Orchester oder im Kammermusikprogramm den gleichen Stellenwert wie ältere Musik genießt. Die Programme des MKOs sind eher die Ausnahme. Klassische Musik ist vielmehr eine konservative Neigung in unserer Gesellschaft und Neue Musik steht natürlich für Fortschritt. Trotzdem wächst langsam das Verständnis, dass Neu und Alt integriert werden müssen, sowohl in den Programmen wie auch beim Publikum. Sonst schrumpft die Kunstmusik weiter zusammen.

Borboudakis: Was sind deine nächsten Pläne? 

Hawthorne: Als nächstes kommt ein Quintettkonzert mit zwei Celli: zwei neue, John Casken und Tobias PM Schneid, zusammen mit dem großen C-Dur-Quintett von Schubert gepaart. 2012 freue ich mich auf die Fortsetzung der Feldman Reihe, diesmal mit Violin and String Quartet aus dem Jahr 1985: eine Münchener Erstaufführung!

Borboudakis: Vielen Dank und viel Kraft für deine weitere Projekte!

Hawthorne: Ich danke dir auch!

Kelvin Hawthorne wurde in New York geboren. Er arbeitete als Bratscher beim Zürcher Kammerorchester und beim Tonhalle Orchester Zürich. Seit 1987 ist er als Solobratscher beim Münchener Kammerorchester angestellt. Als Solist und Kammermusiker hat Hawthorne diverse Aufnahmen beim BR, WDR und ORF eingespielt sowie mit den Labels NEOS, Wergo und Cavalli Records. In den vergangenen Jahren erfolgten Einladungen zu verschiedenen renommierten Festivals, unter anderem bei der Münchner Musica Viva, der Münchener Biennale, beim Ultraschall Berlin, bei den Donaueschinger Musiktagen sowie dem Schleswig-Holstein Musik Festival. 

 

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