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Die Tempelreinigung. Foto: Passionsspiele Oberammergau 2010 / Brigitte Maria Mayer
Die Tempelreinigung. Foto: Passionsspiele Oberammergau 2010 / Brigitte Maria Mayer
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Auch musikalisch auf hohem Niveau: Premiere der Passionsspiele Oberammergau 2010

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Richard Wagner, der 1871 die Passionsspiele in Oberammergau besuchte, hat daselbst unzweifelhaft Anregungen für sein Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ gefunden, wohingegen die Oberammergauer im Jahre 1880 von ihm die Idee des unsichtbaren Orchesters übernahmen.

Das 55-köpfige Orchester der Passionsspiele Oberammergau, klassisch besetzt mit dreifachen Posaunen, übernimmt jene Funktion der Schauspielmusik, die noch im ersten Dritten des vergangenen Jahrhunderts an großen Sprechbühnen üblich war: instrumentales Fundament für Chöre und Ensembles, für Zwischenmusiken, Märsche und Gesänge, in die das Volk bisweilen unisono einstimmt. Wer heute ein derartiges Zusammenspiel von Schauspielkunst und Musik erleben will, der kann dies partiell noch am Wiener Burgtheater erleben, – oder alle zehn Jahre im großen Rahmen in Oberammergau.

Der Fakt allein ist erstaunlich: Ein Dorf bereitet sich fast ein Jahr lang mit rund 2400 Mitwirkenden auf ein Stück vor, das dann über vier Monate lang beinahe täglich gespielt wird. Ausschließlich Einheimische kommen zum Einsatz. In den seltensten Fällen im Hauptberuf Künstler, musizieren, singen und spielen sie in der über sechsstündigen Aufführung, – und können somit mindestens ein Jahr lang ihrem Brotberuf kaum nachgehen. Und doch bewegt sich die Aufführung auf überwiegend professionellem Niveau.

Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters, hat zum dritten Mal das Oberammergauer Passionsspiel inszeniert und dabei erstmals den zweiten Teil der Aufführungen in die Abendstunden verlegt. So beginnt der zweite Teil des Spiels, nach knapp dreistündiger Pause, um 20 Uhr und nutzt die Beleuchtungsanlage des 1898 erbauten, überdachten Zuschauerraums. Die wurde zwar auch bei Opernaufführungen und Konzerten verwendet, und bei jenen weiteren Stücken, welche die Oberammergauer, inmitten des zehnjährigen Turnus der Passionsspiele, hier erarbeiten und zur Aufführung bringen. Aber für den Licht-Einsatz beim Passionsspiel war erst ein Bürgerentscheid erforderlich.

Ein Gelübde der kleinen Gemeinde im Jahre 1633, im Falle der Errettung vor der Pest, alle zehn Jahre ein Passionsspiel aufzuführen, wurde erstmals im Jahr darauf verwirklicht. Seither haben sich Aufführungsgeschichte, Text und Musik des Spiels vielfach stark verändert. Nach einer einschneidenden Textreform der seit 1860 nahezu unveränderten Fassung von Joseph Alois Daisenberger im Jahre 2000, gab es im nunmehrigen 41. Spieljahr erneut einschneidende Veränderungen. Insbesondere wurden diverse weitere Antijudaismen entfernt, welche in der alten Form so immanent waren, dass Hitler die Passionsspiele besuchte und für „reichswichtig“ erklärte. In enger Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen, steuert Regisseur Stückl den alten antisemitischen Tendenzen auch durch Hinzunahme jüdischer, teil gesungener Gebete entgegen. Judas, der traditionell und auch noch nach der Zeit des Dritten Reichs gelb gekleidet war, erfährt besondere Sympathie: nach seinem Verrat, deutlich relativiert durch den breit ausgespielten Verrat des Petrus, erhält Judas’ Verzweiflung über seine Tat breiten Raum.

Ohne elektronische Verstärkung tragen die Stimmen der Darsteller im fast 5000-köpfigen Auditorium. Von der Regie sehr präzise gearbeitet, faszinierend in den Massenszenen (mit allein 240 Kindern), erinnern nur einige wenige Darsteller in Kleinstpartien daran, dass hier Laien agieren. Die falsche Lautung der Endsilbe „ig“, hier konsequent zu hören, wird offenbar als sprachlicher Regionalismus auch am Volkstheater akzeptiert. Der Showwert der Inszenierung ist beachtlich, wozu auch ein Zoo von Schafen und Ziegen, mit Pferden, Tauben, Dromedar und Esel beitragen.

Da den internationalen Zuschauern die christlichen Inhalte nur noch partiell bekannt seien, so der theologische Passionsspiel-Berater Ludwig Mödl, wird Jesus zunächst in einigen Szenen mit seiner humanen Lehre der Nächstenliebe und Akzeptanz Geächteter eingeführt, dann erst als umstürzlerischer Rabbi gezeigt. Die Frage seiner Gott-Sohnschaft wird kaum tangiert, und seine namentlich genannten Brüder streiten sich mit dem Herumtreiber, er möge endlich einen ordentlichen Beruf ergreifen. Die römische Besatzung, unter der Jesus’ Wirken steht, ist bei Stückl allgegenwärtig. Und Jesus’ radikale Aufforderung zum Umdenken findet auch Sympathisanten bei den Pharisäern.

Mystischer und meditativer Bezug kommt in den immer wieder eingestreuten Tableaux vivants zum Tragen, mit denen auf der geschlossenen Mittelbühne analoge Szenen aus dem Akten Testament bebildert werden. Ausstatter Stefan Hageneier hat hier mit starker Farbigkeit zwölf ikonenartige Raumbilder kreiert, die neben überkommenen Szenen – wie der Errichtung der ehernen Schlange durch Moses – auch neue Szenen enthalten, etwa die Rettung der Israeliten aus dem Roten Meer.

Da die lebenden Bilder stets eine oratorienartige Umrahmung durch Chor und Solisten erfahren, wurden für die neuen Bilder in diesem Jahr auch eine Reihe von Neukompositionen erforderlich, die der Oberammergauer Markus Zwing ohne merklichen Bruch in die Gesamtkomposition von Rochus Dedler (1777–1822) eingefügt hat. Dedlers Tonsprache bewegt sich zwischen Mozart und Mendelssohn, auch mal mit leichten Anklängen an Händel im Hosianna. Zwing, der 2002 auch die Musik zum Salzburger „Jedermann“ komponiert hat, schafft nach der Pilatus-Szene Allusionen an Gluck.

Unter Michael Bocklets Leitung erweist sich das Orchester der Passionsspiele als ein von Klein-auf zusammengewachsener, trefflicher Klangkörper mit hoher Präzision. Der 44-köpfige Chor überzeugt in Intonation und Diktion, auch im vierstimmigen Fugato. Zwei der vier (insgesamt dreifach besetzten) Solisten sind Vollprofis, aber eine künstlerische Distanz zu den anderen, zumeist aus dem Chor der Passionsspiele hervorgegangenen und sonst beispielsweise als Ärztin oder Konzertmanagerin arbeitenden Gesangssolisten ist nicht auszumachen. Besonders eindrucksvoll ist die Wahl der Altstimme für Jesus’ Worte beim letzten Abendmahl.

Nicht mehr als zentrales lebendes Bild, sondern dezentralisiert auf der rechten Bühnenseite und höchst realistisch gestaltet wird die Kreuzigung. Hier gebührt dem auratischen Jesus-Darsteller Frederik Mayet, sonst Pressesprecher des Münchner Volkstheaters, angesichts der verregneten, extrem kalten Premiere besonderes Mitgefühl, fast nackt in luftiger Höhe hängen und anschließend reglos auf dem kalten Estrich liegen zu müssen.

Die doppelt besetzten Darsteller wurden für die Premiere per Los ermittelt (während die nicht gelosten definitiv in der Derniere spielen werden). Nachhaltig beeindruckende Leistungen boten Carsten Lück als Judas (sonst Bühnenbaumeister), der mit Ausdauer keifende Kaiphas von Anton Burkhart (sonst Forstwirt), Christian Bierling (sonst Pyrotechniker) als ein an Provinz und Hitze leidender Pilatus, der 20-jährige Student Maximilian Stöger als Petrus und der 70-jährige Raimund Bierling als agitatorischer Annas. Den übermütig lachenden König Herodes gab Markus Köpf (frei gestellt vom Bayerischen Kultusministerium).

Als eine weitere Parallele zu den frühen Bayreuther Festspielen, wo es bis in die Dreißigerjahre überhaupt kein Verbeugen der Künstler nach den Aufführungen gab und wo bis ins zweite Drittel des vergangenen Jahrhunderts beim „Parsifal“ nicht applaudiert wurde, verneigen sich auch die Mitwirkenden in Oberammergau nicht.
Angesichts der nassen, von der offenen Bühne her wehenden Kälte an diesem überlangen Theaternachmittag und -abend war das Publikum dafür dankbar – und brachte nur einen kurzen Achtungsapplaus.

Weitere Aufführungen: bis 3. Oktober, täglich außer Montags

 

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