Hauptbild
Nuancenreiches Spektrum unterschiedlichster Klang- und Dynamikstrukturen: der Komponist Ming Tsao. Foto: Edition Peters
Nuancenreiches Spektrum unterschiedlichster Klang- und Dynamikstrukturen: der Komponist Ming Tsao. Foto: Edition Peters
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Der doppelte Caliban – „Mirandas Atemwende“ von Ming Tsao beim Berliner „Kontraklang“

Publikationsdatum
Body

„Mirandas Atemwende“ von Ming Tsao wurde im Rahmen der Reihe „Kontraklang“ in Berlin konzertant uraufgeführt. Hans-Peter Graf berichtet.

Besetzt mit Figuren aus Shakespeares „Der Sturm“ ist „Mirandas Atemwende“ des US-amerikanischen Komponisten Ming Tsao (*1966) ein Stück zum Themenkomplex Sprache und Macht, oder: die Macht aus der Sprache und ihre Entkopplung. Tsao folgt mit „Mirandas Atemwende“ seiner Kurzoper „Die Geisterinsel“. In diesem Werk von 2011 hat er bereits die Grundzüge seiner jetzigen Auseinandersetzung mit dem Shakespeareschen „Sturm“-Stoff entwickelt.

Seinerzeit rekurrierte Tsao im Auftrag der Stuttgarter Oper auf das gleichnamige Singspiel von Johann Rudolf Zumsteeg und seinem Librettisten Friedrich Wilhelm Gotter, die den „Sturm“ Ende des 18. Jahrhunderts im Sinne höfischer Moralvorstellungen angepasst hatten. Für seine Fassung reduzierte Tsao das Personal auf Prospero, seine Tochter Miranda, deren Geliebten Fernando und einen Geisterchor. Die Figur Caliban ist gedoppelt in seine ursprüngliche bösartige Halb-Tier-Halb-Mensch-Gestalt und in das sprachgebildete, „feine Ungeheuer“. Der Text wurde aus dem Libretto von Gotter und der „Sturm“-Übersetzung von Christoph Martin Wieland kompiliert.

Besondere Beachtung fanden bei Tsao zwei Quellen, die auf die zentrale Figur Prosperos und seine Ambiguität hinlenken: nämlich der reale, zu Shakespeares Zeiten weithin bekannte Bericht von 1609 eines Schiffbrüchigen namens William Strachey und seiner Rettung (der „Sturm“ entstand dann 1611/12). Und zweitens das Sonett Nr. 94 („They that have power to hurt and will do none“ / „Wer, wo er Macht hat, keine Streiche führt“). Shakespeare wirbt hierin für stoische Lebenshaltung, sparsamen Umgang mit den Gaben der Natur, sexuelle Zurückhaltung und Keuschheit. Als Part von Caliban 1, also den durch Prosperos Sprachpädagogik quasi „anzivilisierten“ Teil des Barbaren, eröffnet das Sonett den Zugang zu einer differenzierten Betrachtung der Machtverhältnisse auf der „Geisterinsel“. Ming Tsao ließ sich durch den Sonett-Kommentar des britischen Dichters und Literaturdozenten Jeremy Halvard Prynne (*1936) dazu anregen. Die Gegnerschaft von Caliban zu Prospero bekommt durch Prynnes Interpretation eine andere Qualität, nämlich die: dass über Prosperos Herrschaftsinstrument Sprache auch andere verfügen, auch dessen Tochter Miranda. Hieraus war die Fortführung des Themas als Perspektive einer Folgeoper gegeben sowie der Aufriss von „Mirandas Atemwende“.

Die Handlung von „Mirandas Atemwende“, wenn man überhaupt von einer Handlung sprechen kann, ist nach dieser Vorgeschichte noch weiter vom Ausgangsstoff abgerückt als das vorangegangene Stück. Übrig bleiben nur Miranda und Caliban 1 und 2. Die Texte hat Ming Tsao aus Gedichten von Paul Celan und J.H. Prynne zusammengestellt; Shakespeare kommt nicht mehr vor.

„Mirandas Atemwende“ ist ein programmatischer Titel. Fünf der sechs Texte Mirandas sind der Sammlung „Atemwende“ von Paul Celan (1967) entnommen. Steht Celan ohnehin für die Entinstrumentalisierung der Sprache, so gilt dies in besonderem Maße für den Gedichtband „Atemwende“. Von hier ab radikalisierte sich Celan zunehmend in poetologischer wie perspektivischer Hinsicht. In seinem Kosmos bedeutet „Atemwende“ etwas Neues freigeben, für Celan natürlich Lyrik: „Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten“. Miranda, befreit aus der geistigen Einflusssphäre ihres Vaters hat nun Statements wie „Für-niemand-und nichts-Stehn“; ihr Part endet mit dem Vers „Mit allem, was darin Raum hat / auch ohne / Sprache“. Ebenfalls befreit kann der gedoppelte Caliban schlussendlich ohne die inneren Zwänge seiner fehlgeleiteten Projektion auf Miranda, wünschen, was noch im „Sturm“ gründlich misslang; jetzt repräsentiert Caliban also die Sphäre der Hoffnung: „That we be born at long last into the image of love“ (Dass wir endlich geboren werden im Zeichen der Liebe). Wie Miranda hat Ming Tsao Caliban auch nur einen Dichter unterlegt, nämlich J.H. Prynne.

Über ihn, den Kenner Shakespeare, und der den Lyriker Celan verehrt und rezipiert, verzahnt Tsao somit die Quellen des Librettos. Gleichwohl bleiben die Parts von Miranda und Caliban getrennt und in sich zusammenhängend. Es geht nicht um Kommunikation. Von den zwölf – einzeln betitelten – Teilen von „Mirandas Atemwende“ gehört Miranda gewissermaßen der erste Block (Nr. 2, 4-8), Caliban der zweite (Nr. 10-12), drei Teile sind Instrumentalstücke.

Ähnlich der Textebene knüpft Tsao auch in musikalischer Hinsicht an „Die Geisterinsel“ an und treibt die dort von ihm erstmals praktizierte Verbindung abstrakter Noise-Techniken mit expressionistischen Strukturen weiter. Insbesondere das Eingangsstück „Erwartung“ arbeitet auf dem Hintergrund des gleichnamigen Schönberg-Titels. Aber auch der Sprechgesang Mirandas stützt sich auf Schönberg. Helmut Lachenmann ist ein weiterer Bezug. Ihm erweist er mit dem Instrumentalstück „ – vor der Erstarrung“, in Anlehnung an Lachenmanns Titel „Mouvement (– vor der Erstarrung)“, die Referenz seines kompositorischen Konzepts. Als instrumentales Stück (Nr. 9) zwischen den Miranda- und Caliban-Blöcken steht es an prominenter Stelle in der Dramaturgie von „Mirandas Atemwende“.

Mit den aus zeitgenössischer Musik vertrauten ausdifferenzierten und ausgefuchsten Spiel-, Sing- und Sprechtechniken, in Kombination mit organischen Formverläufen und mit einem nuancenreichen Spektrum unterschiedlichster Klang- und Dynamikstrukturen generiert Ming Tsao eine musikalisch stringente narrative Folie zu den abstrakten Vorgängen der Gedichte von Celan und Prynne. Spieltechnische ‚Zitate‘ im Ensemble oder die Rückführung des musikalischen Sturms aus der „Geisterinsel“ koppeln das durchkomponierte 40-minütige Stück gewissermaßen an diesen Ausgang zurück.

Trotz des konzertanten Modus dieser Opernuraufführung brauchten die Zuhörer auf visuelle Eindrücke, die nun mal eine Oper ausmachen, nicht zu verzichten. Dem Stück vorangestellt war der Film „Schwarze Sünde“ von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Ihre Verfilmung von Hölderlins „Der Tod des Empedokles“ stimmte im Sinne einer Ouvertüre auf die Oper ein. So wie Straub/Huillet an den Texten ihrer Filmprotagonisten gearbeitet und sie in einer Mischung aus expressiver wie akribischer Behandlung ausgelotet hatten, muss sich der Komponist beim Thema seiner Oper mit dem Filmer-Ehepaar verbunden fühlen. Hinzu kam an diesem Abend, dass das Prozedere der Filmvorführung – alte 35mm Projektoren, hörbar schnurrend, der obligate Filmriss sowie die Örtlichkeit an sich, nämlich der lebendigen Charme ausstrahlende ehemalige Vergnügungssaal „Heimathafen“ aus dem vorvorherigen Jahrhundert – die Tür zu buchstäblich anderen Wahrnehmungs-Welten öffnete. Insoweit war die Kombination von Film und Oper schlüssig. Dass Hölderlin und „Der Tod des Empedokles“ inhaltlich nur gewaltsam mit dem Stoff  dieser Oper(n) in Verbindung zu bringen ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt und muss wohl billigend in Kauf genommen werden.

Zurecht starker Beifall für die souveränen Ausführenden, für Tajana Rai, Mezzosopran, als Miranda, die Schauspieler/bzw. Sprecher Christoph Gareisen und Jan Pohl als Caliban 1 und 2, das Kammerensemble Neue Musik aus Berlin (KNM) unter Leitung von Stefan Schreiber, der auch schon die UA der „Geisterinsel“ in Stuttgart 2011 dirigierte, und für den Komponisten Ming Tsao. Veranstaltet wurde die Uraufführung durch die neue, erst Anfang des Jahres im „Heimathafen Neukölln“ etablierten Konzertreihe „Kontraklang“.

Ob die Ankündigung, „Mirandas Atemwende“ gehöre als zweiter Akt zur „Die Geisterinsel“, auch den Gedanken an eine vollständig inszenierte Aufführung einschließt,
bleibt als durchaus reizvolle Überlegung offen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!