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Brechung und Parodie: Künnekes „Vetter aus Dingsda“ in Bremen. Foto: Jörg Landsberg
Brechung und Parodie: Künnekes „Vetter aus Dingsda“ in Bremen. Foto: Jörg Landsberg
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Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ in einer beispielhaften neuen Sicht am Theater Bremen

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Der Dirigent Florian Ziemen, der neue „erste koordinierte Kapellmeister“ am Bremer Theater, ist fest davon überzeugt, dass die Operette der zwanziger Jahre etwas ganz anderes war, als das Bild der süßlichen Operette, das sich im Nachkriegsdeutschland entwickelt hat und für das immer noch irgendwie Anneliese Rothenberger und Rudolf Schock stehen: zumindest inbezug auf Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ (1921).

Und so machten sich der Regisseur Frank Hilbrich und er für die neue Produktion am Bremer Theater auf die Suche nach den Ursprüngen. Was sie vor allem umsetzten, ist der Geist der Anarchie und der Ironie. Und es wurde ein großartiger Abend, der es keine Sekunde nötig hatte, auf billige Gags oder seichte Musik zurückzugreifen.

Ziemen hatte für seine erste eigene Bremer Produktion das Manuskript des Komponisten eingesehen und danach eine vielseitige, scharfe, komische, immer gut sitzende Musik entwickelt, die mehr zu tun hat mit dem Musical und dem Kabarett – in einer sozusagen historischen Aufführungspraxis in der Tradition eines Jacques Offenbach. Zudem sass das Orchester – die Frauen auch als Männer mit Schnurrbärten verkleidet – auf der Bühne, die Musiker waren samt ihres Dirgenten dramaturgischer Bestandteil der Szene. „Spielt doch!“ hieß es häufiger, wenn es auf der Szene stockte.

Und das tat es öfter mal in der verworrenen Geschichte um die alten Joseph und Wilhelmine Kuhbrot, die das Erbe der reichen Julia verwalten und verprassen. Julia wartet auf Roderich, der vor sieben Jahren ausgewandert ist. Er kommt anonym zurück und nun entwickelt sich ein Feuerwerk von Verwechslungen und präzisen Blicken auf die neue Bürgerlichkeit und Spießigkeit der jungen Leute, während die eigentlichen Anarchisten die Alten sind: Unverbesserliche 68ger, Karsten Küsters mit langen Haaren und riesigem Bauch – und einem enormem Mut zu widerlicher Hässlichkeit - und Eva Gilhofer meist mit Rotweinflasche und in tunikaartigen Gewändern. Es ist ein ganz eigenes Erlebnis, wie diese beiden die starken und immer präsenten Hintergrundsäulen der Story sind als die „Verwandten, die man lieber nur von hinten sieht“.

Steffi Lehmann als zauberhaft intelligente Julia, Marysol Schalit schnell und aktiv als ihre Freundin Hannchen, Alan Hodzovic als verführerischer 1. Fremder, Nicky Wuchinger als glatt-schöner 2. Fremder, Christian Andreas Engelhard als böser und rachsüchtiger Egon von Wildenhagen: ein junges Team, in dem OpernsängerInnen mit Chanson- und Musicalsängern gemischt werden: genau das bekommt dem Stück bestens.

Der Stil der Inszenierung provoziert die reichhaltigen Lacheffekte nicht auf der Ebene von mehr oder weniger guten Witzen, sondern auf der Ebene der Brechung und der Parodie. Ob die Sehnsucht nach Batavia, wo Roderich herkommt, sich in Baströckchen und japanischen Schirmchen zeigt, ob die beiden im Liebesduett immer wieder zu Standbildern erstarren, ob so schnulzige Dinge wie „die Stimme des Herzens ist mehr wert als leblose Ideale“ als Zitate von unbeschreiblicher Komik rüberkommen: dem Bremer Frank Hilbrich gelingt mit der unverzichtbaren Choreographie von Jaqueline Davenport und dem einfach schönen Bühnenbild von Volker Thiele, vor allem aber mit der unberechenbaren Musik durch Florian Ziemen ein ganz großer Wurf, den man mit dem oft gehörten „Ach, Operette ist nicht so mein Ding“ keineswegs abtun kann.

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