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Matthias Kaul in Witten 2013. Foto: Charlotte Oswald
Matthias Kaul in Witten 2013. Foto: Charlotte Oswald
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Fama wohnt jetzt im Eisschrank – Mit „Relax“ holt Matthias Kaul in Hamburg Ovids „Metamorphosen“ in den heutigen Alltag

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Matthias Kaul ist der große Kompromisslose der aktuellen Musik aus dem Norden. Mit seinem vielfach preisgekrönten Ensemble L’art pour l’art hat er schon vor Jahren der Freien und Hansestadt Hamburg den Rücken gekehrt, weil die einfach nicht begreifen, jedenfalls nicht in Zuschüsse ummünzen wollte, welche Impulse die Hamburger Musikszene diesem innovativen, hochbegabten Kopf verdankte.

Zur Musik sei er gegen den Willen seiner Eltern gekommen, erzählt er beim Podiumsgespräch im Rahmen des diesjährigen Festivals für experimentelle Musik klub katarakt in der Hamburger Kampnagelfabrik: Ein Glück sei das gewesen, dass die Eltern ihm nicht erlaubt hätten, Klavier zu spielen. „Das hat eine ungeheure Energie freigesetzt.“

Diese Energie hat ihn in eine erstaunliche Karriere zwischen Rock und Neuer Musik katapultiert. Energie ist auch das untergründige Thema seines installativen Musiktheaters „Relax“, eines Auftragswerks der Bayerischen Staatsoper aus dem Jahre 2006. Dabei kommen so wundersame Instrumente zum Einsatz wie Eisschränke, Mausefallen, eine Tontopfpresse und diverse Fallobjekte. Inspiriert von den „Metamorphosen“ Ovids, überträgt Kaul den Begriff in das Gegensatzpaar Spannung und Entspannung, denn „Tonproduktionen sind immer Entspannungsvorgänge.“

Aus dieser Betrachtung könnte leicht ein enzyklopädisch-trockener Abend werden. Aber nicht bei Kaul. Die Fallhöhe von Poesie und Witz wird gleich im ersten Bild klar: Der Akteur Torsten Schütte kriecht bis zum Rumpf in einen der Eisschränke und rezitiert, indem er jede Ecke des weiß ausgeleuchteten Kubus begutachtet wie ein seltenes Insekt, Ovids Text über Famas Haus: „Mitten im Raume der Welt, zwischen Meer und Erde und Himmel, liegt eine Stätte, wo jene Bereiche einander berühren. Alles, was ist, mag es noch so entfernt sein, man kann es von dort aus sehen, und jeglicher Laut dringt hier zu den lauschenden Ohren.“ Wie der Text Alltagsgeräusche wie das zarte Ächzen der Türangeln und das immergleiche Brummen der Kühlstäbe ins Bewusstsein holt und zu Klang adelt, das ist meisterhaft komisch und geistreich.

Auf diesem Niveau fesselt Kauls absurdes Theater das Publikum einen Abend lang auf die Stuhlkante. Der Komponist am Schlagzeug, die Flötistin Astrid Schmeling und der Gitarrist Michael Schröder musizieren mit Vogelstimmen genauso wie mit den in der Presse zerberstenden Blumentöpfen. Natürlich bedienen sie auch Kauls klanglich fein abgestimmtes Instrumentarium, vom Seifenhalter über den Beatmungsschlauch bis zum Aquarium, das meiste davon verstärkt (Klangregie: Sebastian Schottke). Die Mundartistin Ute Wassermann ploppt und knarrt, quietscht und gurgelt und löst mit einem Stöckchen zwei Hundertschaften Mausefallen aus, so dass die darauf liegenden Tischtennisbälle umherspringen wie weiße Mäuse.

Ovid ist stets präsent, und sei es in Andeutungen, wenn etwa Schütte einen frechen Text von Kaul im Ovid-Tonfall vorträgt. Auch die Ringer, die einander im Hintergrund abwechselnd auf die Matte werfen, sind eine Metapher für Kauls ostinates Thema, sondern auch ein Verweis auf die Bedeutung dieser Sportart in der Antike. Gegen Ende dürfen die beiden auch mal Ovid lesen: ohne Sinn und Verstand – den liefert Torsten Schütte pantomimisch dazu.

Spannung (und Entspannung) erzeugt indessen nicht nur die Erwartung, wann etwa die nächste Mausefalle zuschnappt. Auch die Musik folgt ihrem eigenen narrativen Bogen, in Zeitlupencrescendi und Verdichtungen des Materials zu irisierenden Klangflächen. Nichts wirkt beliebig, nie wird die Struktur zum Selbstzweck.

Sollte jemand angesichts des Werktitels geglaubt haben, er könnte sich beim Hören entspannen, so wird er schon vor dem eigentlichen Beginn eines Besseren belehrt. Noch während des Einlasses kracht Metall auf Metall – ein Becken, eben eines der Fallobjekte, stürzt von einem Haken an der Decke auf ein anderes, am Boden liegendes. Mit markerschütterndem Effekt. Wie ein running gag ziehen sich diese Stürze durch den Abend, planvoll und doch unkalkulierbar. Es weiß nämlich niemand, wenn der Eiswürfel geschmolzen ist, der Becken und Haken zusammenhält. „Wir können die Dinge nicht zwingen“, hatte Kaul vorher über die zu Musikinstrumenten umfunktionierten Alltagsgegenstände gesagt. „Wir sind ihnen ausgeliefert.“ Eine Beobachtung, so unaufdringlich weise wie der ganze Mann. 

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