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Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ an der Oper Lyon. Foto: Oper Lyon
Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ an der Oper Lyon. Foto: © Bertrand Stofleth
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Festival Les Jardins mystérieux – Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ an der Opera du Lyon

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Sogar Straßenhinweisschilder an Kreuzungen weisen zu „ Les Stigmatisés“ als dem „chef d’oeuvre luxurient“ in der Opera du Lyon: Im tiefschwarz gestylten Opernhaus, mit seinen roten Laternen und schmalen Rolltreppen zu Parkett und Rängen, schien die französische Erstaufführung von Franz Schrekers skandalumwitterter Oper „Die Gezeichneten“ richtig platziert. Es begann auch durchaus spannend, mit der Projektion von Suchanzeigen vermisster junger Frauen und Kinder – in englischer Sprache in der französisch überzutreten, in deutscher Sprache gesungenen „Les Stigmatises“.

Der deutsche Regisseur David Bösch siedelt die Renaissance-Geschichte in der Neuzeit an, mit Videokameras und Handyfotos. Im Bühnenraum von Falko Herold, mit geschickt eingesetzten Großraumprojektionen, agieren die adeligen Vergewaltiger und (Kindes-)Mörder an einer den 1. Akt bestimmenden Abendmahlstafel und verlustieren sich nebenbei an der Haushaltsgehilfin Martuccia (Aline Kostrewa). 

In dieser Produktion bringt der Podesta der Stadt Genua (Michael Eder) die als stumme Rolle zumeist gestrichene Ehefrau mit, eine pummelige Matrone, die seine Verspannungen massiert und über deren Körpermassen auf der Lust-Insel Elysium drei Herren gleichzeitig herfallen. Carlotta, die Tochter des Bürgermeisters, ist ein heutiges, ausgeflipptes Mädchen mit roten Haaren, dessen psychosomatische Angst vor dem ersten Orgasmus sich ebenso schwer transferieren lässt wie die artifiziellen Welten dieser „seltenen Begabung“ als Malerin. Während die Bühnenrückwand auch für erklärende Projektionen dient – Bildern, blauen, roten und Röntgen-Händen, von Totenkopf, Blumenrabatten und Schmetterlingen, bleibt Carlottas Gemälde unenthüllt. Unklar bleibt in der gut gearbeiteten Personenführung auch die wichtige Tatsache, dass sich Alviano überwindet, Carlotta nicht körperlich zu besitzen, obgleich sie bereit ist, sich ihm hinzugeben. Hier scheint er in seinem Vorhaben, sich ihr zu vereinigen, durch den Eintritt einer Dienerin gestört.

Rundweg fragwürdig bleibt der dritte Akt: Alviano führt als ein Zauberer seine Insel – mit selbstleuchtenden Sträuchern – vor und lässt am Firmament das Wort „Elysium“ aufglühen. Musikalisch kommt der durch allerlei Kürzungen, wie ein schlecht gestückeltes, orchestrales Patchwork wirkende Schlussakt dabei nicht recht in Gang. Die köstliche Diskussion der Bürger und Handwerker über die Kunst ist ebenso eliminiert, wie die falschen Erziehungsmethoden eines Elternpaars, die ihr Kind einem Mörder geradezu in die Arme treiben. Verblüffenderweise suchen diese Eltern in einer späteren Szene singend nach ihrem Kind. Wie die drei Senatoren, sind sie als Teil des Volkes in Lyon mit Mitgliedern des Chores besetzt.

Mit Bezug auf den Film „Es geschah am helllichten Tag“ aus dem Jahre 1958 (mit Gerd Fröbe) spielt der Regisseur die Verführung des (hier stummen) Kindes dennoch pantomimisch aus: Menaldo (Robert Wörle) wandelt nach vollbrachter Tat mit Luftballon und Lutscher einher. Mit Menaldo hatte auch die szenische Attraktion, bereits während des Vorspiels begonnen: er entführt die blutjunge Ginevra Scotti (Marie Cognard), die zum Zeichen ihrer Kinderrolle auch später stets eine Puppe mit sich führt. Die bereits in Schrekers Opernlibretto nicht eindeutige Intrige zwischen Menaldo, Julian (Pjotr Micinski) und dem Handlanger Pietro im Zusammenhang mit der Entführung dieses Mädchens, wird auch hier, wo Martuccia und Pietro sie gemeinsam in einer Versenkung verschwinden lassen, trotz des häufig eingeblendeten Wanted-Posters, nicht klar.

Verunklarung der Geschichte

Weitere Verunklarung der Geschichte entsteht dadurch, dass Personen hier nicht durchgezogen, ihre Handlung nicht zu Ende erzählt wird. So übernimmt der lyrische Tenor Jan Petryka, der für den Pietro nicht genügend Stimmkraft besitzt, anschließend die Partie des Jünglings, der um die Liebe einer unbekannten Schönen Willen leidenschaftlich mit seinem Leben spielt. Und die am Leben gebliebene Martuccia schlüpft in die Rolle einer Solo-Dienerin. Der von Philip Wite einstudierte Chor, auf zwei Auftritte reduziert, trägt beim ersten Auftritt große Tierköpfe und Hörner, als handele es sich um eine Variante der „Lustigen Weiber von Windsor“ oder des „Sommernachtstraumes“. In der nächsten Szene halten sich die Choristen gelbe Smileys vor den Kopf; auf der Rückseite zeigen die Masken das Foto des Alviano. Sowohl mit der Farbe Gelb als auch mit der Identifikation des Volkes mit seinem ambivalenten Wohltäter, zitiert die Inszenierung jene Regie-Tat von Hans Neuenfels, die 1978 in Frankfurt den Anfang der Renaissance von Franz Schrekers Werken bildete; und wie dort wird Alviano dann auch ein Pappschild umgehängt (in Frankfurt stand allerdings darauf „Ich bin ein Monster, hier „IL RE“).

Weiter zur Schreker-Ikonographie gehören, wie jüngst bei „Irrelohe“ in Kaiserslautern, Starkstrom-Masten oder auch der seit 1978 häufig zu sehende, von den Darstellern im Spiel bewegte Scheinwerfer in der Atelierszene.

Misslungene Schlussszene

Leider völlig misslungen in Lyon ist die Schlussszene. Der in dieser Oper wiederholt besungene und von Schreker mit den raffiniertesten Orchesterfarben geschilderte Topos der Lustgrotte ist auf eine Matratzengruft reduziert, die im Original anwesenden (stummen) Edlen und der (singende Herren-)Chor der Bürger sind eliminiert, nur fünf Statistinnen, Carlotta Alvianio und Tamare sind noch auf der Szene.

Als proletenhafter, kiffender Potentat in Hemd und Hosenträgern und als Capitaneo di Giustizia völlig unzutreffend als Mönch gedresst, bietet Markus Marquardt als Herzog Adorno die Spitzenleistung an sängerisch diffiziler Gestaltung und Diktion. Ebenfalls trefflich textverständlich singt Charles Workman den Alviano mit sehr linear geführtem Tenor; er verkörpert den „kleinen Krüppel“ als drahtig hoch aufgewachsenen, ein Bein nachziehenden Gezeichneten mit Gesichtsrose. Simon Neal, als Alvianos Nebenbuhler und Rivalen Tamare fehlt es an charismatischem Eros. Die Adeligen (außer den bereits Erwähnten, auch Jeff Martin, Falko Hönisch und James Martin) bilden ein stimmlich beachtliches Gauner-Ensemble. Magdalena Anna Hofmann als Carlotta besitzt nicht das richtige Stimmfach für die zwischen Lyrismen und dramatischen Ausbrüchen angelegte Partie der herzkranken, exzentrischen Malerin, sie klingt in der Höhe angestrengt.

Ein Glücksfall hingegen der spanische Dirigent Alejo Pérez: Er beweist, dass man aus dieser ungemein vielschichtigen Partitur immer wieder neue Elemente hörbar herausarbeiten kann. Seine der Romantik verpflichtete Leseart lässt mit dem Orchestre de l’Opéra de Lyon zahlreiche Schönheiten aufblitzen, er musiziert stringent und temporeich.

Das merklich international besetzte Publikum äußerte keinerlei Widerspruch gegen Protagonisten oder Bühnenvorstände, applaudierte begeistert und mit frenetischen Bravorufen, obgleich der um 20 Uhr begonnene Abend, mit einer ausgiebigen Pause nach dem 2. Akt, zwangsläufig erst gegen Mitternacht endete. Ohne Zweifel galt dieser Triumph der ungewöhnlichen Oper und ihrem Komponisten. Teile des Publikums reisten gleich am morgen weiter nach Berlin, wo das Konzerthaus-Orchester gleich zwei Kompositionen Franz Schrekers darbietet, die „Lieder vom ewigen Leben“ und den „Geburtstag der Infantin“.

  • Weitere Aufführungen: 17., 20., 22., 26. und 28. März 2015.

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