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Foto: Staatsoper Stuttgart
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Frei nach Freud: Christian Spuck deutet Glucks „Orphée et Euridice“ in Stuttgart

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Für die Begründer der Gattung Oper besaß der thrakische Singer-Songwriter Orpheus das Charisma eines Schutzheiligen. Rechtfertigte doch die mystische Macht seines Gesanges das gesungene Wort auf der Bühne. Denn gemäß der überlieferten Sage gelang es dem Erzpoeten, dank seiner betörenden Stimme, seine geliebte Eurydike wenigstens vorübergehend dem Totenreich zu entreißen: Überwältigt von der herzzerreißenden Totenklage Orpheus' gab Hades Eurydike frei.

Doch Orpheus stand das Verbot, sich beim Aufstieg in die Oberwelt nach seiner Angebeteten umzuschauen, nicht durch und verlor sie für immer.
Viele Opernkomponisten wünschten ihrem Patron ein besseres Ende und korrigierten den Mythos in Hollywoodmanier: Noch einmal lässt sich Hades dazu erweichen, Eurydike aus dem Schattenreich zu entlassen – und man feiert fröhlich Hochzeit. Das ist auch in Christoph Willibald Glucks Orpheus-Oper nicht anders.

Für alle, denen dieses erzwungene Happy-End heute verständlicherweise auf den Wecker geht, bietet Christian Spucks Inszenierung und Choreographie des Gluck'schen Reformwerks an der Stuttgarter Staatsoper jetzt geistige Labsal: Seine intelligente und moderne Deutung des Mythos, mit der ihm auch eine poetische Durchdringung des Themas Tod gelang, präsentiert er in starken, vielschichtigen Bildern und einem stringenten dramaturgischen Bogen. Garniert ist sie, Spucks eigentlicher Profession entsprechend, mit sehr, sehr viel Tanz.

Der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts tritt mit Glucks Orpheus-Drama zumindest in Stuttgart zum ersten Mal als Opernregisseur in Erscheinung. Im Rahmen der Kooperation der Sparten Ballett und Oper hat man sich nicht für die gängige italienische Erstfassung der Oper von 1762 entschieden, sondern für die sehr selten gespielte französische Version "Orphée et Euridice", die Gluck 1774 für Paris erstellte. Denn die gibt dem Ballett mehr Raum, und die Tatsache, dass Gluck die ursprünglich für einen Kastraten gedachte Orpheus-Partie für einen sehr hohen Tenor umgeschrieben hat, kommt ohnehin dem heutigen Geschmack entgegen.

Spuck verweigert sich in seiner Inszenierung dem glücklichen Ende: Kurz vor Schluss der Oper, während einer ausgelassenen Hochzeits-Tanzvorführung, der Orpheus und Eurydike in majestätischer Haltung zunächst brav zugeschaut haben, bricht Eurydike zum zweiten Mal von einer Schlange gebissen zu Boden und stirbt. Und flugs verwandelt sich der festlich beleuchtete Ballsaal zurück ins Anfangsbild: In einem abgewrackten Revuetheater des Fin de siècle, das seit Jahrzehnten keinen Menschen mehr gesehen hat, dessen Oberlichter zerbrochen und dessen Tapeten vergilbt sind, liegt inmitten lebloser Körper Orpheus: in tiefer Trauer um seine geliebte Eurydike, deren Tod er nicht einmal ansatzweise begreifen kann.

Das Ende ist also der Anfang und der Anfang das Ende, und alles könnte wieder von vorne beginnen. Weil seit Sigmund Freud Wiederholung auch als Metapher für den Tod verstanden werden kann, wird spätestens jetzt klar, dass auch Orpheus nicht mehr ganz von dieser Welt ist. Die Geschichte um die vermeintliche Rettung der Geliebten aus dem Totenreich, die der Abend erzählte, entsprang seinen Halluzinationen. Denen eines Sterbenden?

Der junge, brasilianische Tenor Luciano Botelho spielt und singt diesen von tödlicher Trauer verstörten, leicht zwangsneurotischen Antihelden eindringlich, berührend, ergreifend. Kein stolzer Orpheus ist das, sondern ein Verzweifelter, der in seinem Schmerz lieber alleine bleiben will. Er wäre niemals in der Lage, stringent einen Plan auszuführen, geschweige denn das Totenreich zu erobern.

Doch ihn weckt die eigene Vision vom Hofstaat Amors aus dem Phlegma, sein Lebenstrieb erwacht. Amor ist eine Dame im Outfit einer Revuesängerin – klar und schön gesungen von Christina Landshamer –, die ein sexy Tänzer-Quintett aus halbnackten, mit neckischen Puttenflügelchen und rosa Augenbinden ausstaffierten jungen Männern delegiert, diese aber nicht immer ganz unter Kontrolle behält. Einer von ihnen wird Orpheus flatternd, hüpfend, verspielt durch dessen Alb- und Wunschträume leiten, die da vom dunklen Höllenreich voller fieser Furien zum hellen Elysium führen, wo leise der Schnee rieselt und alles so friedlich ist, dass man fast einschläft. Dort hat Eurydike längst begonnen, Orpheus zu vergessen.

Mit Orpheus' quirligem Begleiter hat Spuck ein feines Bild gefunden für die libidinöse Seite des Trauernden, die diesen wegführt von Todessehnsucht und Höllenangst. Mitreißend und erotisch tanzt Alexis Oliveira den blinden Engel, der Orpheus umflattert, irritiert, sich versteckt, ihn umgarnt, um ihn hinzuführen zu der Begehrten.
Stark ist auch die Begegnung Orpheus' mit der Toten in Szene gesetzt. Acht Eurydikes sind es, die Orpheus empfangen: Distanziert, mit starrer Mine, längst von ihrem Ich befreit. Und zwecks vollständiger Verwirrung hat Spuck Eurydike auch noch mit zwei Sängerinnen, Alla Kravchuk und Catriona Smith, besetzt.

Ziel des Choreographen war es, in dieser Produktion ein Gleichgewicht zwischen Tanz und Gesang herzustellen. Neben den großen Ballettszenen wie dem exaltiert und formbefreit dargebotenen Höllentanz kommentieren fast durchgehend Tänzer und Tänzerinnen das Innenleben Orpheus' oder verleihen seiner inneren Bewegtheit Gestalt – mal im neoklassizistischen, abstrakten Paartanz oder gemischt mit modernen Elementen im Kollektiv. Für Opernpuristen mag das zuweilen ein wenig zu viel des Guten sein. Doch den tänzerischen Experimenten entspringen auch hier oft berührende Bilder: Etwa wenn sich das Ballett und der fantastisch agierende und singende Chor hinter Orpheus zusammentun, um mit ihm in einer einzigen, riesenflügelartigen Wellenbewegung zu verschmelzen.

Phänomenal auch, wie das Licht von Reinhard Traub das wunderbar morbide, multifunktionale Revuetheater-Bühnenbild von Christian Schmitt in immer neue Sphären katapultiert. Von der Dunkelheit ans Licht wandeln sich die bis ins Detail stimmigen Kostüme von Emma Ryott. Und auch das Orchester in der Leitung von Nicholas Kok macht mit einem klar strukturierten, transparenten, dennoch saftigen Sound seine Sache gut.
Am Ende gab es tosenden Applaus für alle Beteiligten. Das ballettgegeisterte Stuttgart wird diese Produktion lieben.

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