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Taktvoll modifiziertes Wissenschaftsbild: Friedrich Blume. Foto: nmz Archiv
Taktvoll modifiziertes Wissenschaftsbild: Friedrich Blume. Foto: nmz Archiv
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Fünfundvierzig Jahre Verspätung: eine interdisziplinäre Tagung zu „Musik(wissenschaft) – Nachkriegskultur – Vergangenheitspolitik“ in Mannheim

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Der vom Deutschen Germanistenverband im Oktober 1966 einberufene Germanistentag in München widmete sich unter dem Generalthema Nationalismus in Germanistik und Dichtung erstmals mit kritischen Ansätzen der neueren Geschichte des Fachs und einigen seiner wesentlichen Gegenstände. Die Denkanstöße und Ergebnisse dieser Tagung suchten die große Wissenschaftsdisziplin mit einem anwachsenden Crescendo heim und haben sie nachhaltig verändert.

Die tonangebenden Herren auf den Lehrstühlen (Damen waren noch kaum mit von der Partie) sahen sich in der Folgezeit auch unbequemen Fragen hinsichtlich ihrer Publikationen und der wissenschaftspolitischen Entscheidungen in den Jahren vor 1945 konfrontiert, Einwänden gegen personelle Kontinuitäten sowie wenig gefilterte Fortschreibung von Forschungsgegenständen und -methoden in den Nachkriegsjahren. Der Luftzug, der von da an den Mief in Hörsälen und unter den Talaren aufwirbelte, griff rasch auf andere Geistes- und Geschichtswissenschaften über und trug wesentlich zur „Studentenbewegung“ bei. Die deutsche Musikwissenschaft erreichte er zunächst einmal nicht. Zumindest nicht vernehmlich und mit bemerkenswerten Spuren.

Noch Ende der 1960er-Jahre nahmen Lehrende und Studierende an den musikwissenschaftlichen Instituten kaum Anstoß daran, dass sich in den Lexika ihrer Fachbibliotheken hinter oder über den Namen von Komponisten wie Mahler oder Schreker kleine Stempel befanden: „Jude“ (mit Davidstern), und dass in Noten-Sammelbänden z.B. die Mendelssohn-Lieder säuberlich herausgeschnitten waren, also fortdauernd fehlten. Dass die Stempelkünstler und Beschneider nicht bekannt und nicht zu ermitteln waren, erschien plausibel. Weniger, warum die Ordinarien ein Viertel Jahrhundert lang Abhilfe nicht für notwendig erachtet hatten. Über die Vergangenheit der Musikwissenschaft in der Zeit nach Forkel, Chrysander und Spitta herrschte Schweigen. Fragen nach der Kontamination der Institute und ihrer Oberhäupter verboten sich, wie verschiedene Zeitzeugen übereinstimmend berichten, von selbst. Denn alle in dem kleinen, überschaubaren und in hohem Maß von persönlichen Beziehungen strukturierten Fach ahnten, dass Verstöße gegen die ungeschriebenen Gesetze der Branche die Berufs-Chancen zunichte gemacht hätten. Später als die benachbarten Disziplinen bequemte sich die Musikwissenschaft zur Exilforschung. Die Sphäre der nationalsozialistischen Musik und des NS-Musiklebens wurde bislang lediglich von zwei Forschern in großangelegten Projekten in Angriff genommen: von Joseph Wulf (1912–1974) und Fred K. Prieberg (1928–2010).

Die Erörterung des langen zähen Schweigens, gegen das auch kaum einer der nach 1933 emigrierten Musikwissenschaftler Einspruch erhob und nur wenige der aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrten, zog sich jetzt wie ein Leitmotiv durch eine Interdisziplinäre wissenschaftliche Tagung am 20./21. Januar in Mannheim: Musik(wissenschaft) – Nachkriegskultur – Vergangenheitspolitik. Anberaumt wurde der bemerkenswert gut besuchte Kongress von der Gesellschaft für Musikforschung – unausgesprochen als eine Konsequenz aus dem „Fall“ des Freiburger Ordinarius Hans Heinrich Eggebrecht, der vor zwei Jahren für Schlagzeilen gesorgt hatte (und unter den Fachkollegen wegen des zum Teil unkritischen Presse-Echos aber vor allem auch Abwehrkräfte mobilisierte). Dabei sind in den letzten drei Jahrzehnten durchaus einzelne Dokumentationen und Studien zu den branchenintern lange als „nicht relevant“ angesehenen Themen und Verstrickungen der 1930er- und 1940er-Jahre erschienen. Auch wurden immer wieder Forderungen laut, das „Orchideen“-Fach möge sich in angemessenen Formen mit seiner Vergangenheit in den Jahren vor und nach 1945 befassen – der nationalsozialistischen Kontaminierung und der nicht stattgehabten Entnazifizierung. Aber erst jetzt scheinen sie zu einem „Ruck“ geführt zu haben.

Unter Federführung der Professoren Wolfgang Auhagen (Halle), Thomas Schipperges (Mannheim), Dörte Schmidt (UdK Berlin) und Bernd Sponheuer (Kiel) wurde jetzt das Augenmerk auf die Kontinuität in einer Wissenschafts-Elite gerichtet und auf strukturelle Zusammenhänge. Die Ergebnisse, die vor allem ein gutes halbes Dutzend jüngerer Wissenschaftler vortrugen, waren frappierend. Mehrere Referate kreisten um die zentrale Figur der deutschen Musikforschung in der Mitte des 20. Jahrhunderts, den Rassekundler und Musikwissenschaftler Friedrich Blume (1893–1957) – und damit auch um die stark gefilterten Annalen der veranstaltenden Gesellschaft, deren Neugründung von den amerikanischen Besatzungsbehörden mit guten Gründen zunächst verboten, von den Briten dann in Kiel zugelassen wurde. Dietmar Schenk beleuchtete Blumes wissenschaftstaktisch delikate Relativierung dessen, was er „Kestenberg-Reform“ nannte (das Kernstück der demokratischen Reformen im Musikleben und den musikalischen Bildungseinrichtungen während der Jahre der Weimarer Republik).

Michael Custodis analysierte das Funktionieren der musikwissenschaftlichen Expertennetzwerke zwischen 1938 und 1948 brillant – so, wie die erste Mozart-Gesamtausgabe mit tatkräftiger Unterstützung Hitlers begonnen wurde, liegen auch Anfänge der Enzyklopädie Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG; bis heute das Kernprojekt und Aushängeschild deutscher Musikforschung) in den Kriegsjahren. Verantwortlicher Herausgeber vor und nach 1945 war Blume, der sein Wissenschaftsmodell „taktvoll“ zu modifizieren verstand (freilich ging er fortdauernd vom welthistorischen Primat deutscher Musik aus). Blumes gleichfalls „taktvolle“ und verblüffend erfolgreiche Bemühungen um die Wiederherstellung internationaler Vernetzung wurden von Philine Lautenschläger minutiös aufgedröselt. Auch die Mechanismen, mit denen er emigrierte Fachkollegen stillschweigend und ohne die Thematisierung der Gründe für die Wege ins Exil wieder einzubinden und ruhigzustellen verstand. Erörtert wurden am Rande auch die „strategischen Partnerschaften“ von Remigranten und deutschen Mutationskünstlern anhand des Verhältnisses von Theodor W. Adorno und dem Volksliedforscher Joseph Müller-Blattau.

Andreas Linsenmann erläuterte die Strategie der französischen Besatzungsoffiziere und die von ihrem Stab arrangierten Ergänzungen und Umstrukturierungen des auch 1945/46 noch gänzlich von „deutscher Musik“ dominierten Musiklebens. Entsprechende Untersuchungen zum Wirken der amerikanischen Besatzungsmacht, die ab 1947 für den „Kalten Krieg“ mobilisierte, hat Ulrich Blomann vorgenommen, dessen grundsätzliches ‚Enthüllungsbuch’ in Kürze für Aha-Erlebnisse sorgen dürfte (bis hin zu den Details der „Umpolung“ wortführender Repräsentanten der Branche durch Offiziere der Besatzungsmächte). Rainer Bayreuther befasste sich, scharf polarisierend, mit zwei zentralen Entlastungsargumenten der Kontinuitätswahrer: „Ich hatte Konflikte mit dem NS-Staat“ und „Ich war kein Antisemit“. Mathias Pasdzierny würdigte die Biographie des aus Australien nach Köln zurückkehrenden Musiksoziologen Alphons Silbermann kritisch – dessen teilweise Eingemeindung bei fortdauernder Ausgrenzung.

Dafür, dass sich die Debatten nicht im Klein-klein einzelner „Täter“- bzw. Opfer-Biographien verzettelten, sorgten die sekundierenden Vertreter der Geschichtswissenschaft: Bernd Weisbrod, Peter Steinbach und Volker Roelke ordneten die „besonderen“ musikalischen Fragen in den allgemeinen geisteswissenschaftlichen Diskurs ein und halfen die keineswegs homogenen Bedingungen im totalitären Staat besser zu verstehen. Sie hoben die Bedeutung der Ordinarienstruktur, der Generationenkonflikte und den Kontext der Verjährungsdebatten in der Bundesrepublik hervor (ausgeblendet blieben die in der DDR praktizierten Formen der „Vergangenheitsbewältigung“). Christoph König gab, gestützt auf die Erfahrungen mit dem (gründliche Aufklärungsarbeit leistenden) Internationalen Germanistenlexikon, grundsätzliche Hinweise zu einer ausgewogenen und differenzierten „Vergangenheitspolitik“.

Die könnte nun auch für eine in akademische Führungspositionen nachrückende Musikforschergeneration „handhabbarer“ geworden sein. Die Mannheimer Tagung ging aus naheliegenden Gründen ohne ein einheitliches Fazit zu Ende. Wie nachhaltig ihre Resultate im Einzelnen, aber auch für das Klima und die Intonationen der Musikforschung insgesamt wirken, wird sich daran bemessen, wie lange es dauert, bis die erst 2008 abgeschlossene 29-bändige Neuauflage der Musikenzyklopädie MGG in einer umfassenden Überarbeitung vorliegt. Durch die Revision müssten die Musikgeschichte, deren Protagonisten und wissenschaftlichen Kommentatoren in der Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso gründlich und wahrhaftig behandelt werden wie die Kleinmeister des 18. Jahrhunderts – bislang tritt in der MGG hinsichtlich der Biographien, Institutionen und Mechanismen in den ‚heiklen Jahren’ ein nicht mehr vertretbares Maß an Lückenhaftigkeit, Verschleierung und Desinformation zu Tage. Die Wahrheit ist, wiewohl bekanntlich ein im Fluss der Geschichte schwankendes fragiles Gut, allemal höchst konkret.

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