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Foto: © Tom Schulze | ME AND MY GIRL // Ensemble
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Glückspillen-Finale: „Me and My Girl“ an der Musikalischen Komödie Leipzig

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Chefdirigent Stefan Klingele und Chefregisseur Cusch Jung machten, bevor sie sich neuen Aufgaben zuwenden, „Me and My Girl“ am Samstagabend zum schönen Finale mit Freudegarantie. Der Applaus tobte noch, als Soli, Chor, Ballett bereits von der Bühne waren und Klingele mit dem Orchester im Graben zu einem letzten Medley ansetzte. Vom Leitungstriumvirat der Musikalischen Komödie bleibt zum Start den neuen Leipziger Opernintendanten Tobias Wolff im September 2022 nur der künstlerische Betriebsdirektor Torsten Rose.

Programmatisch bis zum Schluss: Seit 1937 war „Me and My Girl“ von Noel Gay, L. Arthur Rose und Douglas Furber das erfolgreichste britische Musical. Damals gab es „My Fair Lady“ (1956) noch nicht. Also blieb es der seit 1985 vor allem in England und US-Amerika erfolgreichen Bearbeitung von Stephen Fry und Mike Ockrent, produziert von Noel Gays Sohn, vorbehalten, die Parallelen zum sozialen Dressurakt an Eliza Doolittle in Loewes Musical und George Bernard Shaws Schauspiel „Pygmalion“ herauszumeißeln. Karin Fritz tat auf der Bühne der Musikalischen Komödie ihr Bestes, um mit Dekor und Textilien die Farben des strengen wie schönen Lebens des britischen Adels gegen das mit flotten Sprüchen aufgemotzte Alltagsgrau der unteren Schichte zu polarisieren. Im Wortsinn trübt kein noch so kleiner Wolkenschatten den blauen Himmel, die weißen Krocket-Dresses des ausgezeichneten Balletts (Choreografie: Andrea Danae Kingston) und die couturistisch überraschungsfreien Gesellschsftsroben. Durch dieses Attribut soll die in Zukunft noch intensiver betriebenen Nachhaltigkeitsabsichten des Hauses nicht bescholten, sondern befeuert werden. „Same procedure as every time“. Das bestätigt Cusch Jungs Inszenierung, wenn die Hauptfigur Bill Snibson die Breitfellschnauze des Tigerfells schmust und mit Königshermelin durch die gemalte Bibliothek tänzelt. Solche Anspielungen machen auch ohne Kenntnis der Vorbilder Spaß.

Mit ihrer Stückwahl hatten Jung, Klingele und Rose in den letzten Spielzeiten, vor allem bis Corona, ihre Besucherkreise erweitert und im Durchschnitt merklich verjüngt. Dafür konzentrierten sie sich auf die Operette zwischen den Weltkriegen und viele für Leipzig neue Musicals. Das gelang, dokumentiert auch in einer CD-Reihe von Dostals „Prinzessin Nofretete“ bis Korngolds „Lied der Liebe“ und „Doktor Zhivago“, glänzend bis anregend. Bei neuen Sichtweisen wie Rainer Holzapfels Inszenierung des „Vogelhändler“ und Entdeckungen wie Künnekes „Die große Sünderin“ zog die reifere und oft eingefleischte Vorlieben artikulierende Zuschauerschaft nicht ganz so mit wie gewünscht. Dagegen brachten Titel wie „Der Kuss der Spinnenfrau“, Bernsteins „On the Town“ und das DDR-Musical „Bretter, die die Welt bedeuten“ neue Farben und überregionales Interesse ins Haus, dessen Publikum dem erstaunlich stabilen Ensemble eine bei jedem Vorstellungsbesuch spürbare Liebe entgegenbringt. Die langen lauten Ovationen am Ende der „Me and My Girl“-Premiere beinhalteten den innigen Dank für diese Jahre, welche sich durch umfangreiche Baumaßnahmen am Haus Dreilinden und die Nutzung von Ersatzspielstätten mitunter kompliziert gestalteten.

Bei der Premiere von „Me and My Girl“ strahlten die Musik, das Ensemble und das Publikum. Man kokettierte ein bisschen mit sich selbst. Eigentlich war alles klar in diesen drei Stunden mit Realitätsflucht-Krönchen: Bill Snibson fällt die sozial-wirtschaftliche Stufenleiter hoch. Aber oben gibt es massive Handicaps, weil die die neue Verwandtschaft und deren Claque keine Berührungspunkte zu anderen als ihresgleichen will und Bills Freundin Sally Smith deshalb ablehnen. Die deutsche Fassung (Hartmut H., Forche & Mary Millane, Joachim Carl und William Arthur) trägt noch mehr Anspielungszierrat Richtung „My Fair Lady“ und den Aufführungsort im Leipziger Westen auf. Wenn die Pearly Kings & Queens, deren Rowdytum sich nur im Tanz artikuliert, zum wie andere Ohrwürmer des Abends durch viele Tonarten geschraubten Lambeth Walk antreten, hat das allenfalls visuelle Kontrastschärfe. Das Orchester der Musikalischen Komödie zeigt alle unter Stefan Klingele in den letzten Jahren enorm kultivierten Swing-Qualitäten. Die britischen und amerikanischen Unterhaltungssounds gehören mit geschmeidiger Politur jetzt fast mehr ins Kompetenzzentrum des Hauses als die Kálmán- und Künneke-Eruptionen mitteleuropäischer Operettenspielwiesen.

Man merkt: Das Ensemble der Musikalischen Komödie ging gemeinsam durchs dick und dünn, zusammengeschweißt in Sinn oder Unsinn. Sie alle haben dem einen der beiden einzigen Schwerpunkt-Repertoiretheater Deutschlands für Operette und Musical ihren persönlichen Stempel aufgedrückt: Die in letzter Zeit häufig höhere Töchter spielende Diva Lilli Wünscher (Lady Jacqueline Carstone) und Nora Lentner als ihre unerhört wandlungs- wie charakterstarke Kollegin (Sally Smith), der endlich in einer Haupt- und Starpartie glänzende Andreas Rainer als der mit dem Feuer der unteren Klassen spielende Bill Snibson und Jeffery Krueger als passgenauer Vollschnösel Gerald Bolingbroke. Angela Mehling, die standesstörrische Herzogin Maria von Dene setzt Bonmots formvollendet wie ihre Hüte. „Liebe ist etwas für die Mittelschicht“ ist nur eine ihrer ins Sozialdarwinistische gedrehten Barbara-Cartland-Weisheiten. Michael Raschle (Sir John Tremayne) und Milko Milev (Charles Hethersett) zelebrieren das köstliche Dream-Komplizenteam von Herr und Butler in stichfesten Charakterfarben, Vikrant Subramanian (Herbert Parchester) schwingt sich zu vergleichbarer Charmeoffensive auf.

Cusch Jung hat jetzt für seine heile Welt eine noch plausiblere Legitimation, weil man dem delikat umschmeichelten Post-Lockdown-Publikum nicht allzu viele Parallelen zur rauen Wirklichkeit vorsetzen sollte. Konsequent und plausibel ist es deshalb weiterhin, wie der Himmel der Musikalischen Komödie fast immer voller Geigen hängt. Da trübt kein Nebelschleier und kein Gegenwartsbezug den Glauben daran, dass Ausbildung, Einbildung und Selbstoptimierung Berge versetzen und Märchen immer wahr werden. Die MuKo ist trotzdem eher belebender Stimmungsaufheller als Tranquilizer. Ihr „Glücklich ist, wer vergisst“ klingt jetzt halt wie der Lambeth Walk.

Musikalische Komödie Leipzig - Besuchte Vorstellung: Sa 25.06.2022, 19.00 Uhr (Premiere) – wieder am So 26.06., 15:00 Uhr - Fr 01.07., 19:30 Uhr - Sa 02.07., 19:00 Uhr - So 03.07., 15:00 Uhr - Sa 16.07., 19:00 Uhr - So 17.07., 15:00 Uhr – Spielzeit 2022/23: Sa 24.09., 19:00 Uhr - So 25.09., 15:00 Uhr - Sa 01.10., 19:00 Uhr - So 02.10., 15:00 Uhr - Mo 26.12.2022, 18:00 Uhr - Mi 28.12., 19:30 Uhr - Sa 21.01.2023, 19:00 Uhr - So 22.01.2023, 15:00 Uhr

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