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Grenzüberschreitende Virtuosität: Die 24. „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum

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In einer Welt, die sich immer rasanter verändert, ist das Altvertraute besonders wertvoll. So sind Festivals zu Fixpunkten unserer Musiklandschaft geworden, mit verlässlichen Elementen von Profil, Zeit und Ort. Förmlich greifbar ist dieser Geist der Beharrlichkeit im Schloss vor Husum, seit beinahe 25 Jahren Schauplatz der „Raritäten der Klaviermusik“.

Während man selbst in Bayreuth über neue Präsentationsformen und die Gewinnung junger Publikumsschichten nachdenkt, verweigert man sich hier hartnäckig jedem modischen Relaunch. Jedes Jahr erklimmt ein treues Publikum dieselbe hölzerne Treppe zum gerade einmal 160 Personen fassenden Rittersaal, um dort an acht Klavierabenden auf Entdeckungsreise ins Unbekannte zu gehen. Dabei gibt es hier nichts Spektakuläres im Sinne von “Klassik-Events” zu bestaunen; hier geht es allein um den Inhalt, nicht um die Verpackung. Gerade in diesem konstanten Rahmen lässt sich immer wieder Neues entdecken - der Star ist das Programm, überstrahlt noch die durchweg ausgezeichneten Künstler.

Zu den eisernen Grundsätzen des künstlerischen Leiters Peter Froundjian gehört auch, keine Themen vorzugeben. Ein “roter Faden” kann somit nur spontan und zufällig entstehen. Diesmal fügte sich das Programm zu einem Panorama der Sonatenproduktion des beginnenden 20. Jahrhunderts. Es zeigte ebenso die spätromantische Blüte eleganter und raffinierter Virtuosität wie deren expressionistische Explosion und neoklassische Reduktion. Die Sonate Nr. 1 in d-Moll von Erich Wolfgang Korngold zeigt deutlich den Übergang: Mit ihr betritt das elfjährige Wunderkind im Jahre 1908 wie mit einem Paukenschlag die kompositorische Bühne, bestrickt hier schon mit der hochfahrenden Dramatik kraftvoller Unisono-Gänge und irisierend süßer Terzmotivik, wie sie den späteren Hollywood-Komponisten auszeichnen sollte. Die 24 Preludien des 15-jährigen Ferruccio Busoni, die der ukrainische Pianist Michail Lifits diesem frühen Geniestreich in feinsinniger Deutung gegenüberstellte, konnten da nur verblassen.

Der Einfluss Alexander Skrjabins dominiert in der russischen Literatur: Mit flexibler, ökonomisch eingesetzter Technik stemmte der der Japaner Hiroaki Takenouchi die fulminante Sonate h-Moll (1922) von Alexander Krajn, vermochte auch die brutalsten Akkordmassen organisch zu beleben. Zu Clustern aufgetürmt, entflechten sie sich wieder zu engen chromatischen Melodielinien und heranflutenden Arabesken - damit beschreitet Krajn, Mitglied der “Neuen Jüdischen Schule” in der Sowjetunion, einen durchaus eigenständigen Weg. Meister Skrjabin höchstpersönlich nahm die Sonate Nr. 1 (1909) von Boris Pasternak wohlwollend entgegen - leider verliert sich das Werk des Verfassers des “Doktor Schiwago” auf etwas spröden atonalen Pfaden in ähnlich epischen Weiten wie der Roman. Viel prägnanter wirkten seine zwei Préludes von 1906, mit Charme und Farbenreichtum dargestellt von Eldar Nebolsin. Mit transparenter Klarheit versah der junge Russe die mit einer ausladenden Fuge anhebende 1. Sonate von Nikolaj Mjaskowsky - Schostakowitsch schätzte seinen Zeitgenossen, von dessen 23 Sinfonien heute wohl nur noch in Russland einige gespielt werden.

Die Sonate Nr. 1 von Samuel Feinberg, 1915 knapp 10 Jahre später entstanden, nimmt durch die intensive Spannung eines unablässigen durchchromatisierten Klangstroms gefangen, ein wenig kompakt interpretiert von der US-Amerikanerin Jenny Lin. Der russisch-jüdische Pianist und Pädagoge Feinberg selbst war berühmt für sein filigranes Spiel, stieß als Komponist in beachtliches Neuland vor und wurde natürlich als “Formalist” angefeindet. In Lins beziehungsreich “durchkomponiertem” Recital traten noch die “April-Präludien” op. 13 von Vitézslava Kaprálova hervor, fein geschliffene Miniaturen einer mit 25 Jahren gestorbenen Tschechin; stärksten Eindruck hinterließ die “Study in Mixed Accents” von Ruth Crawford Seeger mit ihrer ungewohnt heftigen, aufgewühlten Tonsprache. Höchste Zeit, dass die explosive Musik dieser Komponistin Eingang in das reguläre Konzertrepertoire findet.

In Husum nimmt das Publikum mittlerweile auch Zwölftöniges willig entgegen und zuckte selbst bei der spröden Sonate von Jean Barraqué nicht mit der Wimper. Das fast einstündige, streng seriell gehaltene Werk wirkt mit seinen zerklüfteten, beständig um Zentraltöne kreisenden Motiven viel unsinnlicher und beliebiger als Vergleichbares etwa von Pierre Boulez aus den dogmatischen Fünfziger Jahren. Jean Frédéric Neuburger jedoch spielte mit derart grazilem Anschlag, subtiler Nuancierung und katzenhafter Geschmeidigkeit, dass man ihm mit atemloser Spannung folgte. Mit den “Métopes” op. 29 (1915) von Karol Szymanowski leitete der 24-jährige Professor am altehrwürdigen Pariser Conservatoire auf verblüffende Weise zum modernen Idiom hin: Trotz programmatischer Lautmalereien programmatischer Bezüge - etwa grell lockende “Sirenen”.Klänge - besitzen die scharf gegeneinander geblendeten Motive einen Grad an abstrakter Ritualisierung, der sie Barraqués serieller Meditation seltsam verwandt erscheinen ließen.

Es sind diese fraglos modernen, doch die Hörgewohnheiten noch nicht gänzlich brüskierenden Werke der “Zwischenkriegszeit”, welche die scheinbar geradlinig auf eine voraussetzungslose Avantgarde zulaufende Entwicklung reizvoll korrigieren. Dazu gehört auch die Suite für Klavier op. 13 (1935) von Pavel Haas, trotz ihrer viel traditionelleren Machart. Ian Fountain enthob sie mit schlankem, zugespitztem Klangbild aller folkloristischen Harmlosigkeit, betonte rhythmische Überlagerungen und ebenso archaisch wie zukunftsweisend anmutende Quart- und Sekundketten. Wie Neuburger zeigte sich auch der 40-jährige Brite als eine Pianistenpersönlichkeit von verantwortungsbewusster Intelligenz. In Sonaten von Medtner und Rachmaninow verscheuchte allein der flexible Einsatz des Pedals jeden romantisierenden Nebel.

Auch die Virtuosität von Marc André Hamelin hat jede Naivität verloren. Der Husumer Publikumsliebling faszinierte schon in früheren Jahren als Bezwinger der abstrusen Klangwelten eines Alkan oder Sorabji. Der Kanadier gilt als technisch vielleicht bester Pianist der Welt; alle Hürden wandeln sich bei ihm in Klangrausch, dem allerdings gerade wegen ihrer federleichten Bewältigung das Element der Selbstgefährdung fehlt. Doch seinem Spiel ist Innerlichkeit und Konzentration zugewachsen. Diesmal präsentierte sich Hamelin vorrangig als Komponist seiner “12 Etudes in All the Minor Keys”, geistreiche “Musik über Musik”, wie sie etwa auch Leopold Godowskys mit der alle Parameter erweiternden “Neukomposition” der Chopin-Etüden schuf. Hamelin geht da noch einen Schritt weiter: Er zeigt, dass er es schafft, alle drei a-moll-Etüden von Chopin auf einmal zu spielen, und zwar so, dass ihre verblüffenden Strukturgleichheit im “richtigen” Zusammenklang erkennbar wird; er entdeckt in Liszts “La Campanella” das kanonische Prinzip und filtert daraus ebenso konsequente wie absurde Kombinationen, oder er parodiert Scarlattis bekannte C-Dur-Sonate mit fröhlich auf “falschen” Tönen landenden Sprüngen. Indem er seine Virtuosität an ihre Grenzen treibt,, überschreitet Hamelin auch harmonische, klangliche und rhythmische Grenzen seiner Vorlagen und fügt ihnen seine eigene originelle Note hinzu. Damit steht der Pianist ganz in der Tradition der großen “improvisierenden Pianisten” vergangener Zeiten, die “Hits” ihrer Zeit ebenso wie Opern und Sinfonien zu horrend schweren Bearbeitungen für die eigenen virtuosen Finger umschrieben - und damit das Klavier immer auch zum Orchester machten.

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