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Absolvierten einen kurzweiligen Liedermarathon: Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Foto: Telemach Wiesinger
Absolvierten einen kurzweiligen Liedermarathon: Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Foto: Telemach Wiesinger
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Hochgesteckte Ziele: Neues Musiktheater beim Festival „Der Sommer in Stuttgart 09“

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Im Gegensatz zur Oper ist das aktuelle Musiktheater oft nicht mehr auf den Gesang hin konzipiert. Den heutigen Komponisten steht es frei, wie sie das akustische Phänomen mit dem Bühnengeschehen, das wiederum nicht mehr zwingend „Theater“ sein muss, verbinden. In dieser Hinsicht befanden sich die drei Musiktheater-Produktionen, die das Festival für zeitgenössische Musik „Der Sommer in Stuttgart“ vom 16. bis 19. Juli als Schwerpunkt präsentierte, durchaus noch im traditionellen Rahmen, zeigten zum Teil aber auch Mut zum Experiment.

Man wolle unterschiedliche Möglichkeiten zeigen, „Musiktheater zu denken, zu komponieren und zu hinterfragen“, so die kooperierenden Veranstalter des Festivals, Musik der Jahrhunderte, Akademie Schloss Solitude, SWR und Stuttgarter Staatsoper. Dabei setzten die vier Partner stärker als bisher auf eine engere Zusammenarbeit innerhalb der einzelnen Produktionen.

„Dreimaldrei gleich unendlich. Die Schuld der Schwester“

Es liegt in der Natur von Experimenten, dass sie misslingen können. Das Projekt „Dreimaldrei gleich unendlich. Die Schuld der Schwester“ etwa, uraufgeführt in den Kellerräumen der Akademie Schloss Solitude in der Regie von Hendrik Müller, scheiterte an seinem viel zu hohen Anspruch, komplexeste psychische Vorgänge in multimediale-theatrale Aktion übersetzen zu wollen. Das Stück mit Musik von Karola Obermüller und dem Text von Tina Hartmann beschäftigte sich mit der Tatsache, dass in unserer Gesellschaft Gewalt immer aus der Sicht der Täter betrachtet wird.

„Wir sind eine Gesellschaft der Täterversteher“, hieß es in der Vorankündigung. Die Macher wollten mit der Tabuisierung der Opferseite brechen. Aber von der Perspektive der Opfer, ihren Gefühlen und Verstrickungen nach einer Gräueltat, wollte sich nicht wirklich etwas vermitteln. Anne-May Krüger in der Hauptrolle einer Frau, die bei der Erkundung vergangener Verbrechen auf ihre eigene Biographie stößt, spielte kraftvoll, mit Bühnenpräsenz und schöner Stimme, aber das alles wollte nicht berühren: Viele Worte, wenig Essenz. Der Abend verlor sich in einer zentralen, featureartigen Video-Ton-Collage, in der dann doch vor allem die Täter zu Wort kamen. Da spätestens fragte man sich, ob ein Dokumentarfilm nicht die passendere Form wäre, um dieses Thema zu ergründen.

„Zivilcourage“

Ein ebenso hoher Anspruch trieb den Regisseur Marcelo Cardoso Gama an, als er auf die Idee kam, die komplexen, scharfsinnigen Gedankengänge der Philosophin und politischen Theoretikerin Hannah Arendt in einer Choroper zu „theatralisieren“. Er übersetzte ihre Fragestellungen zum politischen Denken und Handelns dann aber in eine viel zu plakative Bilderwelt.

„Zivilcourage“ hieß das uraufgeführte Staatsopern-Projekt, das den Platz vor der Paul-Gerhardt-Kirche im Stuttgarter Stadtteil West bespielte, weil hier die Schwelle zwischen öffentlichem Raum und privaten Balkonen besonders niedrig ist. Es ist der Weg zum zivilen Widerstand, der Gama interessierte: raus aus einem privaten passiven Zustand in einen aktiv handelnden, dem nach Hannah Arendt ein Prozess des Denkens vorangehen muss. Doch der Abend erinnerte mehr und mehr an ein pädagogisches Theaterprojekt auf einem evangelischen Kirchentag. Die Klarheit der Worte verlor sich schnell auf Platz unter freiem Himmel. Protagonisten waren dort vor allem die Chöre der Staatsoper: Zunächst vermummt mit niedlichen Tiermasken von Sabina Moncys, verlacht man die Opfer eines faschistoiden Menschenfängers in Henkersmaske, der die traurigen Häschen und Hunde wahllos aus der Menge greift und zu einer imaginären Schlachtbank führt. Bis jemand sich die Maske vom Kopf reißt und damit solche Irritationen auslöst, dass es ihm alle nachtun.

Die weitere theatrale Aktion scheiterte dann an der Hauptidee des Abends: Man animierte die Zuschauer mit der Aufforderung "Betreten der Spielfläche erwünscht" zum Ignorieren der Markierungen, um sie am Wandlungsprozess der Darsteller auch körperlich teilhaben zu lassen. So vermischten sich Chöre und Publikum bald zu einem kunterbunten Haufen, was für die Zuhörenden immerhin den Vorteil hatte, im Zentrum des Chorgesangs zu stehen. Der gab nämlich unter Leitung von Bernhard Epstein engagiert und intonationssicher die sachgerecht komponierte Klangwelt von Gordon Kampe zum Besten. Kampe hatte sich nicht dazu verführen lassen, die Texte Arendts am Stück zu vertonen, sondern sich auf Satz-Fragmente beschränkt. Die Worte waren nur selten zu verstehen, aber in schöne, mal schwebende, mal durchrhythmisierte, oft sich reibende und manchmal recht harmonische Klangflächen verpackt, welche zeitgemäß mit unterschiedlichsten Zutaten garniert waren: Megaphonverzerrung, Plastiktütenknittern, Mundharmonikasäuseln.

Zuweilen klang auch der Platz mit, sein Schotter, der Glascontainer, die Gitterstäbe des Kirchenportals. Und es gab zwei Solisten, die grelle Linien und ihre Erdung beisteuerten (Maja Tabatadze, Christoph Sökler). Was sich allerdings zwischen dem Anfang und dem Finale – einer euphorischen Kundgebung der Verbrüderung, der Liebe und des Friedens – ereignete, blieb weitgehend im Dunkeln. Man hatte in der Menschenmasse einfach zu wenig gesehen von dem, was großräumig vor sich ging. Grübelnde, drängelnde Menschen liefen an einem vorbei, ein depressiver Henkersgeselle entledigte sich seiner Kleidung. Plötzlich fielen neben einem Leute zu Boden. Und was tat da vorne die Gruppe mit den gelben Luftballons? So beneidete man die Vöglein, die mit ihrem fröhlichen Abendgezwitscher dem oft düster-aggressiven Chorgesang eine delikate Scherzando-Note verpassten und von ihren luftigen Logenplätzen aus den Überblick über das Ganze behielten. Aber ob sie dort Bezüge zu den tiefgründigen Gedanken Hannah Arendts erkennen konnten, darf angezweifelt werden, nicht nur wegen der artbedingten Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis.

„Aura“

Weil es seine Geschichte klar strukturiert erzählt und sein Publikum nicht durch zuviel komplexes Wollen überforderte, schnitt „Aura“ des spanischen Komponisten José-María Sánchez-Verdú, konventionell inszeniert auf der Bühne des Stuttgarter Theaterhauses, noch am besten ab. Ganz langsam, zu langsam verging jedoch die Zeit. In dem Stück passierte einerseits zwar viel, andererseits aber auch sehr wenig. Viel, weil der Komponist in „Aura“ die gleichnamige erotisch-phantastische Novelle von Carlos Fuentes vertont, in der ein Mann namens Felipe in den Bannkreis einer sehr jungen und einer uralten Frau – Aura und Consuelo – gerät, die in Wirklichkeit ein- und dieselbe Person sind.

Das ist eine spannende, leidenschaftliche Geschichte, in der sich das Zeitgefüge und die Kategorien Jugend und Alter, Tod und Leben aufzulösen scheinen. Wenig passiert, weil die Musik, die der Spanier schrieb, 70 Minuten lang nur selten überrascht. Musikalisch kommt das Stück auf Samtpfoten daher: feine Schraffuren, fragile Klänge, nervös grundiert, skizzenhaft umrissen: flirrend , sirrend, ploppend, hier Glockentönchen, dort Flageoletts, manchmal ein tiefes Brummen aus der Tuba, geheimnisvolle Akkordeonklänge. Die Stimmen deklamieren, hecheln und stöhnen. Die Ohren hält das auf Dauer nicht wach, auch wenn das Kammerensemble Neue Musik Berlin unter Leitung des Komponisten das Klangnetz straff hielt und immer wieder feinste Farben herbeizauberte.

Die größte Überraschung ereignete sich im Liebesduett zwischen Felipe (Andreas Fischer) und Aura (Sarah Maria Sun): Plötzlich schleichen sich von Ferne italienische Operntöne in die Klänge, es wird richtig emotional. Schön auch gegen Ende die „Engelsstudien“, in denen der Komponist den Schlag von Engelsflügeln hörbar werden lässt mit dem selbst erfundenen Auraphon, das Gongs und Tam-Tams mittels Elektronik in leichte Vibration versetzt und so geheimnisvolle, metallische, langsam sich verdichtende Klangflächen erzeugt. Die Inszenierung von Susanne Øglænd konnte der Ereignisarmut der Musik wenig entgegensetzen.

Zwischen den fünf unglücklichen, verquälten Menschen auf der Bühne, allesamt gespielt von den wie immer exzellent singenden Mitgliedern der Stuttgarter Neuen Vocalsolisten, entwickelte sich kein wirklich inspiriertes Spiel. Die Videoprojektionen von Jan Speckenbach erquickten immerhin mit schönen Bildern von Bäumen, Gebirgsbächen und Frauengesichtern – wie dies derzeit en vogue ist, wenn in der Oper inhaltliche Leere zu füllen ist.

Liedermarathon

So avancierte etwas ganz anderes als eine aufwändige Musiktheater-Produktion zum heimlichen Highlight des Festivals: Beim langen, aber sehr kurzweiligen Liedernachmittag im Theaterhaus wurde kräftig mit unseren Vorstellungen aufgeräumt, was von einem Musikstück zu erwarten ist, welches sich Kunstlied nennt. Eine Roboterstimme, die sich in den Gesang einer Mezzosopranistin einmischt und ihr flapsige Antworten gibt, wie in „Der Förster und die Försterin“ von Steffen Krebber? Ein improvisierendes Miteinander, an dem auch das aserbaidschanische Instrument Kämantscha beteiligt ist, wie in Günay Mirzayevas „Etiraf“? 21 neue Liedkompositionen, Vertonungen vor allem von zeitgenössischer Lyrik, waren zu hören als Ergebnis eines Großprojekts der Musikhochschule Stuttgart und dem Veranstalter Liedkunst/Kunstlied. Alle Werke stammen aus den Kompositionsklassen von Marco Stroppa und Caspar Johannes Walter.

Es herrschte größte formale und klangliche Vielfalt: Das weite Spektrum reichte vom Solo und kompakten Klavierlied über Gesang mit Instrumentalensemble bis hin zum Einsatz von Live-Elektronik. Ob kleines Drama oder komödiantische Szene, ob Sprechstimmen vom Tonband oder exotische Instrumente – Beeindruckend war der Einfallsreichtum der 21 jungen Komponisten beim Experimentieren mit der Tradition. Eine geheimnisvolle, durchbebte Klangwelt eröffnete sich etwa in Marta Gentiluccis „Lob der Ferne“, in welchem die Sopranstimme von Schlagzeug und Live-Elektronik mehr und mehr verschlungen wird. Als innovativ outete sich Beste Aydin, die in „Donuk“ eine Sängerin und drei Instrumente in Interaktion mit einer Videoleinwand treten lässt, auf der ein Maler ein abstraktes Bild vervollständigt. Wunderbar auch die Jandl-Vertonung "Eulen" für Sopran, präpariertes Klavier und Kontrabass des 1989 geborenen Nicolas Kuhn mit ihrer groovenden, rhythmisch raffinierten Begleitung, die Jazzerfahrung verriet.

Die Neuen Vocalsolisten hatten als Interpreten sichtlich Spaß an diesem Projekt, von den Instrumentalisten der Musikhochschule und Elisabeth Föll am Klavier ganz zu schweigen.
Ein feiner Kontrapunkt zum experimentellen Musiktheaterschwerpunkt des Festivals.

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