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Gegen rassistische Klischees ankämmen: „Haircombing Cycle“ bei der MaerzMusik. Foto: Camille Blake/Berliner Festspiele
Gegen rassistische Klischees ankämmen: „Haircombing Cycle“ bei der MaerzMusik. Foto: Camille Blake/Berliner Festspiele
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Im Labyrinth der Bezüge: Das Berliner Festival MaerzMusik hinterlässt gemischte Eindrücke

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Das Berliner MaerzMusik-Festival erprobt und diskutiert ein erweitertes Verständnis Neuer Musik und ihrer Präsentation, weg vom tradierten Konzert, hin zum offenen Event und diskursiven Formaten. Das franst gelegentlich aus in die Beliebigkeit.

In diesen Tagen steht der Sinn eigentlich nach anderen Dingen, als ausgerechnet Fragen zum Fortschritt der Neuen Musik zu diskutieren. Und das schon gar nicht in Berlin, wo Ankommende am Hauptbahnhof mit der neuen mitteleuropäischen Realität des nicht nachlassenden Stroms von ukrainischen Flüchtlingen konfrontiert werden. Und wenn dann beim Spaziergang Unter den Linden die russische Botschaft mit viel Polizeipräsenz großflächig und streng abgesperrt ist, wird der Ernst der Lage unübersehbar. Dennoch nimmt in Berlin der Kulturbetrieb, endlich befreit von den langen Einschränkungen, nahezu unbeirrt seinen Lauf.

Darunter auch die MaerzMusik, die seit jeher als eines der sperrigsten unter den Neue-Musik-Festivals gilt und sich – zumindest auf den ersten Blick – in diesem Jahr besonderes hermetisch gibt. Offenbar aber schrecken weder die unübersichtliche Webseite, noch die Fülle des Programms, noch die teils rätselhaften Veranstaltungstitel ab. Denn das Publikum – bis zum Festivalende hat man 6.000 Besucher gezählt – kommt, hört, diskutiert und besucht die Workshops. Ob dieser Zuspruch etwas daran ändern kann, dass die Neue Musik nach wie vor eher eine Nischen-Existenz im Kulturbetrieb fristet, bleibt abzuwarten.

Verästelungen

Um dem Krieg, der Pandemie und anderen aktuellen Katastrophen etwas entgegenzusetzen, hat MaerzMusik sich an der Naturwissenschaft orientiert. Denn wenn wir der Wissenschaft glauben, dann steht uns immerhin wenigstens eine positive Entwicklung bevor, nämlich die Revolution der Pilze. Mit dem Verständnis für die hoch komplexen Strukturen dieser Organismen wachsen auch die Ideen, deren Möglichkeiten für eine nachhaltige Bioökonomie zu nutzen.

Auf die Idee dieses „next big thing“ setzt das Festival als zentrale Metapher seines bewusst mäandernden und spekulierenden Programms. Schließlich versteht sich der Nebentitel „Festival für Zeitfragen“, den Berno Odo Polzer als künstlerischer Leiter bereits 2015 ausrief, in doppelter Bedeutung: Untersucht werden Fragen des Phänomens Zeit und unser Umgang mit ihr im Hinblick auf die Zeitkunst Musik, aber auch brisante Themen der Zeit.

Im Dramaturgen-Sprech ist das zentrale Thema des Festivals die Suche nach „Relationalität“, also nach dem Beziehungshaften, und das liest sich dann so: „Eine der leitenden Metaphern bei dieser Suche ist das Mycelium: das gewaltige Netzwerk aus verästelten Pilzfäden, die den Boden durchdringen, Lebensräume und Arten verbinden.“

Verästelt ist auch ganz buchstäblich die Organisation des zehntägigen Festivals: Zehn über Berlin verstreute Veranstaltungsorte bieten ein schwer zu überblickendes Programm, darunter die DAAD-Galerie, der Martin-Gropius Bau, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die Philharmonie, das Zeiss-Großplanetarium und das Kultur-Quartier Silent Green im ehemaligen Krematorium auf dem Weddinger Urnenfriedhof. Dort sind das Diskursformat „Thinking Together“, sowie die zentrale Konzertreihe „Interpoiesis“ angesiedelt.

Daneben gibt es Kunstinstallationen, Ausstellungen, ein eigenes Radio- und Filmprogramm, Workshops, Lectures und Diskussionen, Vermittlungsprogramme aller Art, vieles ist auch online abrufbar. Ein Programmbuch, das Orientierung in dieser Überfülle der auch noch parallel ablaufenden Veranstaltungen bieten könnte, gibt es nicht, lediglich einen Leporello und eben die labyrinthische Webseite.

Kämmen und flöten

Der dreistündige Eröffnungsabend unter dem Titel „A Garden of Forking Paths“ (dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges entlehnt) im Gropius Bau ist tatsächlich ein Konzert, das zumindest im ersten Teil einem herkömmlichen Ablauf folgt: Mit einiger Verspätung betreten 18 dunkelhäutige Performerinnen den Lichthof des Gropius-Baus, setzen sich in einen engen Kreis und kämmen sich mit neonbunten Kämmen selbst und gegenseitig das krause Haar. Die scharrenden Geräusche des Kämmens werden verstärkt in den Raum geschickt, die Performance „Haircombing Cycle“ verweist also mit reduziertesten Mitteln auf rassistische Klischees. Es folgt „The Circle Flute“: vier Musiker*innen spielen vier zu einer großen Kreisform zusammengeschmiedete Flöte, ein monströses Instrument, dem vorwiegend überblasene und flatternde Töne entweichen. Ob es sich hierbei um eine eher überlange Komposition oder eine Improvisation handelt, bleibt im Unklaren.

Es folgen einige virtuose Soli von Mitgliedern des Klangforum Wien an verschiedenen Orten im und um den Lichthof, es erklingen Kompositionen etwa von Rebecca Saunders, Salvatore Sciarrino oder Toshio Hosokawa. Die Klangforum-Mitglieder wirken ein wenig unterfordert in dem improvisiert wirkenden Rahmen, auch akustisch bleibt es schwierig, vieles verschwimmt im Überhall, aber das soll ja auch vielleicht so sein. Außerdem herrscht eine Dauer-Unruhe im Raum, die im zweiten Teil dann völlig ausfranst. Dann nämlich werden verschiedene Räume des Gropius-Baus parallel bespielt, das Publikum hat die Qual der Wahl, was dazu führt, dass viele der konzentrierten musikalischen Miniaturen im Getrappel fast zur beliebigen Begleitmusik eines hektischen Konzert-Hoppings werden. Auch wirken viele Übergänge kaum geprobt. Aber auch das soll, darf wohl so sein.

Mut zum Unfertigen

Nicht nach Plan verläuft auch ausgerechnet gleich das erste Konzert der nicht eben niedrigschwellig betitelten Reihe „Interpoiesis“, die Ergebnisse der Begegnungen von Musikern aus unterschiedlichsten Traditionen präsentieren will. Denn im Kuppelsaal des ehemaligen Krematoriums nimmt nur Robert Machiri aus dem Kollektiv PUNGWE an imposanten Mischpulten Platz; weder die versprochene Duo-Partnerin Memory Biwa noch der spanische Klangkünstler Llorenç Barber sind vor Ort, beide sind verhindert, haben aber vorher wie geplant zusammengearbeitet. Für den künstlerischen Leiter Polzer war aber „der Prozess trotzdem extrem fruchtbar. Wir haben aber in Interpoiesis bewusst die Möglichkeit offengelassen, dass Prozesse beginnen und Arbeitsschritte geteilt werden. Und jeder Abend hat einen anderen Entwicklungsgrad.“ Man könnte das auch als Mut zu Lücke, zum Unfertigen bezeichnen.

Den ersten Eindruck, dass das Festival-Programm extrem diskurslastig ist und die Anteile an Performances, Kunstinstallationen, Lectures und Mischformen größer sind als die der Musik, weist Polzer zurück. „Die Gewichte haben sich keinesfalls verschoben, der Fokus liegt bei uns immer auf Klang, Musik und dem Hören. Aber, was stark dazu kam, war das Nachdenken darüber. Und auch bei den bildenden Kunstformaten, bei den Ausstellungen geht es immer um Künstler*innen, die zwar nicht im Kanon der Neuen Musik sind, aber deren Arbeit ganz stark fokussiert ist auf Klang.“

Benjamin Patterson und Éliane Radigue

So gibt es etwa in den Savvy Contemporary-Galerieräumen eine Begegnung mit dem vor sechs Jahren verstorbenen Afroamerikaner Benjamin Patterson, der zu den heute wenig bekannten Gründern der Fluxus-Bewegung zählte und sich in seinen Arbeiten stark auf die die Musik der westlichen Hochkultur bezog. Zu sehen sind Originalpartituren, Texte, Objekte, Videos und Archivmaterial.

Ein weiteres „normales“ Konzert bietet die Begegnung des Klangforum Wien mit dem Ensemble ONCEIM aus Paris im Kammermusiksaal der Philharmonie mit der gemeinsamen Aufführung von„Occam Océan“, dem ersten Orchesterwerk der Elektronik-Pionierin und Entdeckerin der Langsamkeit Éliane Radigue, der im Festival anlässlich ihres 90. Geburtstages eine Hommage mit 18 Konzerten gewidmet ist.

Für den künstlerische Leiter Berno Odo Polzer ist vor allem wichtig, dass das Festival „Begegnungsräume öffnet für Leute, die sich, wenn sie einer Linie, einer Idee dessen, was Neue Musik ist, folgen würden, niemals begegnen würden. Und es kommt zu sehr interessanten Mischungen von Leuten, von Publikumsbereichen, von Leuten mit sehr unterschiedlichem Hintergrund, unterschiedlicher sozio-ökonomischer Position, unterschiedlichem Bildungshintergrund, unterschiedlicher Sozialisierung in der Musik. Und das ist unser Ziel, ganz klar. Eine Verbreiterung, Diversifizierung des Raums.“

In der Tat sitzen im Silent Green bei den Elektronik-Experimenten übliche Verdächtige des Neue-Musik-Betriebs neben Nerds im Hoody und Zufallsgästen, die vielleicht nur chillen wollen. Dennoch bleibt das Fazit gespalten: Neben erhellenden (Hör)-Erlebnissen bleibt ein Gefühl von Beliebigkeit zurück, das die Folge der Annahme ist, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, der Eindruck von Verstiegenheit auf der einen Seite und einem Hang zum Dilettantismus auf der anderen.

 

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