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Szenenbild aus Frank Martins „Le Vin Herbé“ an der Staatsoper Berlin. Foto: Hermann und Clärchen Baus
Szenenbild aus Frank Martins „Le Vin Herbé“ an der Staatsoper Berlin. Foto: Hermann und Clärchen Baus
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Kollektiver Liebeswahnsinn in Kriegszeiten: Frank Martins „Le Vin Herbé“ an der Staatsoper Berlin

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Frank Martins Weltliches Oratorium „Le Vin herbé“, im Jahre 1938 durch einen Auftrag für Kammerchor entstanden und 1942 in Zürich uraufgeführt, erlebte seine szenische Erstaufführung im Jahre 1948 bei den Salzburger Festspielen in deutscher Übersetzung des Komponisten. So auch 1959 an der Deutschen Oper Berlin. Die Berliner Staatsoper brachte das Werk nun in der Originalsprache, im Rahmen des Wagnerjahres als kontrastierende Ergänzung zu „Tristan und Isolde“.

Während Richard Wagner das Epos von Gottfried von Straßburg als Vorlage gewählt, aber alles  Episodenhafte und jene Elemente eliminierte, die er bereits anderweitig dramatisiert hatte oder noch dramatisieren würde (etwa das Gottesgericht oder das zwischen den Liebenden liegende Schwert), so wählte der 1890 geborene Frank Martin eine Reduktion des umfangreichen Stoffes durch Joseph Bédier, in der gleichwohl alle wichtigen Züge der epischen Handlung berücksichtigt sind.
Im Gegensatz zum übermächtigen musikdramatischen Vorbild beschränkte sich der Schweizer Komponist in seiner Partitur auf zwölf Stimmen, sechs solistische Streicher und Klavier.
Auf Leitmotivik verzichtet Martins Partitur hingegen nicht, so singt etwa die erste Violine ein kantilenenhaftes Liebesthema. Klanglich pflegt die Partitur archaisierende Momente á la Gesualdo, mit häufigen Quart- und Quintfortschreitungen. Syllabische Vertonungen dienen einer Verdeutlichung der Wortmalerei. Martins epische Textaufbereitung schlägt den Bogen zurück zu Thespis und dem frühen attischen Theater. Alle oder mehrere Singstimmen erzählen die Geschichte, bisweilen auch im Unisono, dann schlüpfen Mitglieder des Chores in die direkte Rede der Solopartien und integrieren sich danach wieder in das Chorensemble.

Zielte Frank Martin auf eine undramatische Konzeption seines gleichwohl in eine Folge von18 Bildern strukturierten Werkes, so arbeitet die Regisseurin Katie Mitchell mit Mitteln des „armen Theaters“. Wie bei Peter Brook, ist das Ensemble der Sängerdarsteller permanent zugegen. Der „leere Raum“ ist die Bühne, aber nicht die des Schillertheaters, sondern die behauptete Bühne eines halb eingestürzten Theaters. Denn die Handlung ist hier ins Jahr der Uraufführung, ins kriegsgeschädigte Paris des Jahres 1942, verlegt. Das zerstörte Theater ist – im Gegensatz zu den Mittel des „armen Theaters“ – mit den Mitteln einer überaus reichen Ausstattung realisiert, mit offenem Feuer und zerstörtem Konzertflügel zwischen Prachtportal und Brandmauern. Durch die Decke des von Lizzie Clachan gestalteten Raumes rieselt der Schnee. Ein zerfetzter, schwarzer Vorhang öffnet sich vor der Bühne auf der Bühne, wo 12 Personen einen Autor und ihre Requisiten suchen, mit denen sie singend agieren wollen. Je zwei Kerzen in ihren Händen stellen sie als Rampenlichter auf, aber nicht an der gespielten Rampe des Theaters, sondern an der des Schillertheaters, an der Kante zum halb hoch gefahrenen Orchestergraben.

Im kalten Winter begeistert sich ein Künstlerkollektiv an der alten Liebesgeschichte vom irrtümlich gereichten Kräuterwein, einem von Isoldes Mutter gemixten Zaubertrank und den fatalen Folgen für die beiden einstigen Erzrivalen, Isolde die Blonde, die Tochter der irischen Königin, und Tristan, dem Neffen des Königs Marke. So legen Einzelne ihre warmen dunklen Mäntel ab um in die solistischen Rollen zu schlüpfen und sich dann, wie die Hauptprotagonisten, noch weiter zu entkleiden. Ein Bett wird wiederholt herein- und herausgetragen, als Liebeslager für deren sitzenden Liebesakt, dann als Ruhelager in der Wildnis und schließlich als das Sterbebett für Tristan, auf dem dann auch Isolde ihr Leben aushaucht. Zuvor beschreiten die Liebenden Stühle als Fluchtweg oder werden – wie später in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ – vom Chor singender Zweige umgeben. Zwei Tische dienen als Tafel, das Tischtuch auch als Meereshorizont, ein Strick als Reeling. Den Liebestrank reicht in dieser Version nicht als bewussten Vorgang Brangäne (Evelyn Novak), sondern ein Mädchen den Durstigen auf dem von der Mannschaft verlassenen Schiff, per Zufall. Wie ihre Mutter (Katharina Kammerloher), so legt Isolde, wenn sie von Tristan getrennt ist, Karten. Für ihren Liebestod schlüpft sie in ein Renaissancekostüm. Und kurz vor Schluss wird ihr Leben dann noch einmal, im Schnelldurchlauf, vergegenwärtigt. Das ist alles sehr gut gearbeitet. Die Personenführung ist exzellent, die pantomimischen Aktionen werden vom Kollektiv des zwölfköpfigen, chorischen Solistenensembles eindrucksvoll umgesetzt. Am Ende besingen alle zusammen die Grablegung der Liebenden und das dreimalige Wachsen eines Brombeerstrauches aus Tristans Grab in das der Isolde. Seltsam nur, dass beim Epilog – statt zweier oder einer – drei brennende Kerzen an der Rampe übrig bleiben.

Die Stimmfächer der Hauptsolisten, Tristan, Isolde, Brangäne und Marke, entsprechen auf den ersten Blick durchaus jenen bei Wagner, was in der Aufführungsgeschichte dieser Oper dazu führte, dass auch Wagner-Sänger die Titelrollen Martins verkörpert haben, so etwa Julius Patzak und Ingrid Bjoner, und Hilde Zadek die Brangäne.

In „Le Vin Herbé“ gibt es neben der Isolde der Blonden (Anna Prohaska) auch Tristans zweite Frau, die Gegenspielerin, Isolde die Weißhändige (Virpi Räisänen). Beide Sängerinnen wurden von Intendant Jürgen Flimm als indisponiert angekündigt, schlugen sich aber tapfer. Anna Prohaska gestaltet Iseut la Blonde mit schwarzen Haaren in verhaltenem Belcanto überaus eindrucksvoll, während Matthias Klink als Tristan zum Forcieren neigt, was in der Premiere zu hörbaren Stimmermüdungen führte. Großartige Leistungen boten Ludvig Lindström als König Marke, Jan Martinik als Herzog Hoël und Peter Gijsbertsen als Kaherdin.

Eindrucksstark auch die Leistungen der Instrumentalsolisten, im Zusammenspiel wie in solistischer Virtuosität, wie sie – ähnlich den Darstellern auf der Bühne – immer wieder einzeln klanglich in den Vordergrund treten, vom französischen Experten für zeitgenössische Musik, Franck Ollu, mit Farbvielfalt spannungsvoll herausgearbeitet.

Am Abend des Champions-League-Finals waren im Schillertheater einige Plätze frei geblieben. Das spannendere Zusammenspiel gab es mit Sicherheit in der Oper – aber dort ist es ja noch fünf weitere Male live zu erleben. 

Das Premierenpublikum feierte die pausenlose, knapp zweistündige, originelle Produktion mit einhelligem, begeistertem Applaus.

Weitere Aufführungen: 29. Mai, 1., 7., 9., 13. Juni 2013

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