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Foto: Iko Freese
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Komische Oper zwischen Operette und Videoclip: Sebastian Baumgartens Inszenierung der „Carmen“ an der Komischen Oper Berlin

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Georges Bizets „Carmen“, im Original mit gesprochenen Dialogen, wurde bekanntlich erst postum durch Ernest Guiraud mit Rezitativen versehen, nachdem der Komponist selbst die dahingehende Bearbeitung für die Wiener Hofoper nicht mehr vornehmen konnte. Walter Felsenstein führte 1949 an der Komischen Oper Berlin die ursprünglichen Dialoge wieder ein, wie es dann u. a. auch Wieland Wagner im Jahre 1958 bei seiner Hamburger Inszenierung praktizierte. Sebastian Baumgarten betonte in seiner höchst eigenwilligen, aber in sich stimmigen Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin die Nähe dieses Werks zum Genre Operette. Und sicherlich wurde nie zuvor in einer „Carmen“-Aufführung so viel gelacht wie an diesem Premierenabend.

In der witzigen Übersetzung von Bettina Bartz und Werner Hintze ist in der ersten Szene vom „komischen Volk“ die Rede, und entsprechend komisch bewegen sich die vom schwarzen, rauchenden Sicherheitspersonal auf dem Dach eines ausgebrannten Bankhauses kommentierten Vorbeiziehenden, etwa eine Kerzen tragende Prozession in tänzelnd krebsartiger Bewegung. Die Handlung spielt radikal im Heute, mit Reklametafeln für Santander und Hyatt vor Plattenbauten, in denen Explosionen zünden und in zweckentfremdeten Containern (Bühnenbild: Thilo Reuther).

Sebastian Baumgarten hat die Dialoge für seine Inszenierung neu gefasst und durch Video-Statements der „Zeugen“ des Geschehens und des später als Mörder angeklagten José erweitert. Überhaupt spielen Film- und Videoprojektionen eine wichtige Rolle in dieser Präsentationsform (Video: Jan Speckenbach): Während des Prélude sind Bilder vom Unrat nach einer Stadion-Veranstaltung zu sehen und – beim Schicksalsthema – die sich öffnenden Schenkel der Carmen, aber auch textliche Anweisungen für das Torrero-Handwerk. Animierte Filme spanischer Tänzerin-Silhouetten laufen an der Bar, verlangsamte Stierkampfaufnahmen mischen sich mit Sternbergs „Blauem Engel“. Der erste Auftritt Escamillos ist hier die Großprojektion eines Advertising Video Clips an der Hauswand.

Am linken Proszenium prangt ein Kinoplakat eines personifizierten Todes mit blutigen Augenhöhlen, dessen Konterfei dann auch vervielfältigt Eigenleben gewinnt, wenn in der Opernhandlung der Tod besungen wird. Auch Carmen hat sich bereits bei ihrem ersten Auftritt als Tödin geschminkt,  später auch der Chor in UV-Farbe bei einer zu einem Volksaufstand uminterpretierten Schmugglerszene: gigantische Gerippe von Marx und Lenin werden vor den Plattenbauten für die kollektive Fragestellung „Was nun“ herangezogen und wieder eingelagert.

Die Fabrikarbeiterinnen versorgen die Männer mit Havannas, rupfen Hühner und kochen sie in einem Hexenkessel für jenen Voodoo-Zauber, der Carmen hilft, Zuniga und sein Wachpersonal kurzzeitig außer Kraft zu setzen. Micaëla hingegen – mit Heiligenschein und blauem Madonnengewand (Ina Kringelborn) – schafft das christliche Gegenbild und zittert bei ihrer Erzählung von Don Josés Mutter selbst wie eine Greisin. Den Text einer von ihr mitgebrachten, überdimensionierten Postkarte als Gruß der Mutter liest das Wachpersonal chorisch.

Erstmals in der Komischen Oper wird das Prinzip der hier sonst durchweg deutschen Sprache durchbrochen: Carmen singt ihre Habanera und das Tanzlied im französischen Original, der amerikanische Sängerdarsteller des Don José spricht zumeist Englisch und Manuela, Ana Menjibar, quirlt in spanischer Landessprache; sie ist eine exzellente Flamenco-Tänzerin, bei deren wiederholt eingeschobenen Einlagen die Komponisten Rayko Schlee und Zamná Urista-Rojas sie als Sologitarristen begleiten.

Zu den komischen Momenten gehört ein von Carmen mit Kreide an die Proszeniumswand gemalter Spiegel, bevor sie José als Gangster mit geschminktem Bart neu einkleidet und sich selbst eine blonde Perücke aufsetzt. Als skurriler Traum Josés ist die zweite Arie Micaëlas gedeutet: sie fährt auf einem übergroßen Dampfbügeleisen herein, auf welchem Carmen, die ihren eigenen Tod als virtuose Gerippe-Slapsticknummer antizipiert, dann abfahren wird. Beim Zusammenstoß der Rivalen José und Escamillo lösen die Hiebe der Boxenden rote Konfettisalven aus. Escamillo erweist sich als bezahlter Spitzel von Zuniga und imponiert Carmen mit einem randvollen Geldschein-Koffer.

Die teichoskopische Chorszene zu Beginn des vierten Aktes gestalten die Damen in knappen Miedern und Glitzer-Miniröcken und -Pants, während vor ihnen Gruppen der Chorherren die besungene, überforderte Militaria und selbstverliebte Phallokraten verkörpern. José, vor dem Eingang zur Stierkampfarena zunächst als Bettler verkleidet, scheitert bei der beabsichtigten Vergewaltigung der Carmen an Impotenz und nach der Ermordung der Ex-Geliebten beim Versuch der ersehnten Zigarette-danach an einem leeren Feuerzeug.

Baumgartens ungewöhnliche Sichtweise, die in ihren szenischen Paraphrasen auf die Bekanntheit der Oper und auf die ihres Inhalts setzt, kann sich auf ein ausgezeichnetes Ensemble stützen, dessen szenische Intensität und geradezu choreographische Umsetzung der Gesangsnummern und Ensembles die der musikalischen Ausführung kaum nachsteht.

Stella Doufexis, die an diesem Haus bereits in der Titelpartie von Josts „Hamlet“ überzeugt hatte, bietet mit überbordender Spielfreude und schlanker Diseusen-Stimmführung einen überzeugenden Gegenentwurf zum gängigen Bild der Femme fatale als dem einer freiheitsliebenden Draufgängerin. Der Heldentenor Timothy Richards verkörpert mit abgedunkelter Stimme den ihr hörigen Militaristen mit einer aus den Kindertagen bis ins reife Mannesalter fortgeführten, auf Carmen projizierten libidinösen Abhängigkeit. Ein nicht ganz so tragfähiges Gegenbild bleibt Günter Papendell als Macho-Torrero. Sehr viel mehr Profil bietet der korrupte und Carmen als Objekt seiner Begierde in Unterwäsche heimsuchende Leutnant Jens Larsen. Erstklassig besetzt sind insbesondere auch die kleineren Partien, wie Mercedes und und Frasquita mit Karolina Gumos und Ariana Strahl, sowie die in gängigen „Carmen“-Inszenierungen zumeist unterbelichteten Schmuggler Dancairo und Remendado, welche Peter Renz und Thomas Ebenstein zu eindrucksvollen Typen formen.

Den Verzicht auf den Kinderchor im ersten Akt macht der von André Kellinghaus einstudierte Chor der Komischen Oper Berlin in gewohnter Spielfreude und Klangpracht durchaus wett. Der junge bulgarische Dirigent Yordan Kamzhalov, designierter Generalmusikdirektor in Heidelberg, interpretiert schwungvoll und leicht, unter gleichzeitiger Betonung der Polymelodik von Bizets Partitur.

Die Presseinformation der Komischen Oper Berlin verschweigt in der Vita des Regisseurs die Bayreuther „Tannhäuser“-Inszenierung. In der Tat zeigt Baumgarten bei der Realisierung  jener Oper, die Friedrich Nietzsche als Gegenentwurf zu Wagner apostrophiert hatte,  eine ungleich glücklichere, konsequente Regie-Handschrift.

Schon in der Pause gab es begeisterte Bravorufe, und am Ende eine völlig ungetrübte Zustimmung des Premierenpublikums.

Weitere Aufführungen: 6., 12., 18., 26., 29. Dezember 2011, 04., 07., 13., 21., 27. Januar, 4. Juli 201

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