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Sternenhimmel: Stephan Bootz, Alin Ionut Deleanu, Paul Johannes Kirschner und Florian Küppers. Foto: © Andreas J. Etter
Sternenhimmel: Stephan Bootz, Alin Ionut Deleanu, Paul Johannes Kirschner und Florian Küppers. Foto: © Andreas J. Etter
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„Nichts klingt, wie es klingt. Sondern alles klingt, wie wir es hören“ – Die neue Hörtheater-Reihe am Staatstheater startet mit „Sternenhimmel“

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Vielleicht muss man frisch in eine Stadt kommen, um das Alltägliche aufregend zu finden. Markus Müller, der neue Mainzer Intendant, war sofort beeindruckt, wie zentral und wie nahe beieinander Dom und Theater liegen – eine Konstellation, die die Mainzer selber inmitten von Shopping, Innenstadt-Events und traditionellem „Weck, Worscht und Woi“ leicht übersehen. Seit Spielzeitbeginn gehen Müller und seine Mannschaft nun mit einer Fülle von Premieren und neuen Konzepten auf die Stadt zu und locken die Mainzer ins Haus. Die wichtigste neue Idee in der Opernsparte ist die Reihe „Hörtheater“. „Sternenhimmel“ heißt die erste von drei Produktionen, und sie führt die Besucher bis ins „Glashaus“ über den Dächern von Mainz.

Es beginnt kurz nach 22 Uhr im unbestuhlten Theaterfoyer im ersten Obergeschoss des Großen Hauses. Die Fenster zum Gutenbergplatz sind mit langen weißen Planen verhängt, die der Graffitikünstler Cédric Pintarelli mit Zeichnungen, Computerformeln und Wörtern besprüht. Manchmal kreuzt er durch den Raum, macht sich Notizen und klettert dann wieder auf seine Leiter. Die Zuhörer, nach Altersgruppen bunt gemischt, stehen verteilt, dazwischen einige unauffällig getarnte Akteure. Andere Mitspieler stehen hinter den Absperrungen zum Zuschauerraum, und auf den Balkonen der Ränge sind Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz sichtbar.

Ein Herr in schwarzer Kleidung mit weißem Gürtel und weißen Stiefeln geht aufs Klavier zu; ohne es zu spielen, schiebt er es auf den Rädern geräuschvoll einmal um die Achse. Aus der Ferne raschelt es geheimnisvoll, klingt es metallisch, donnert es gar. Wenn sich die Akteure des aus interessierten Bürgern gebildeten Mainzer Geräuschensembles nähern, oder wenn man dem Klang nachgeht, erkennt man: Es sind schlichte Alltagsgegenstände, die überraschende Wirkung entfalten: Plastktüten, Metallschüsseln, Blumentöpfe usw. … „Nichts klingt, wie es klingt. Sondern alles klingt, wie wir es hören“, sagt dazu der Ankündigungstext, „denn unser Auge hört mit.“ Umgekehrt könnte man auch sagen: Das Ohr schaut mit.

Ein Helfer schiebt ein Pult und einen Notenständer herein. Dezent übernimmt Kapellmeister Samuel Hogarth die Führung. Der Halbkreis, den sein rechter Arm beschreibt, misst der „Komposition Nr. 1“ des Geräuschensembles die verbleibende Zeit zu. Leise klimpert eine Spieluhr das alte Lied „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“. Und während die Darsteller das Publikum wortlos auf die Treppen geleiten, beginnen die über die Etagen verteilten Instrumentalisten des Staatsorchesters kurze punktuelle Floskeln oder Einzeltöne zu spielen – als ob sie einen klingenden Miniaturkosmos verkörperten. Tatsächlich erklingt Musik aus John Cages nach einer Sternkarte konzipiertem „Atlas Eclipticalis“ und aus Karlheinz Stockhausens „Tierkreis“.

Der Aufstieg führt über den 2. Rang und die Reste des einstigen 3. Rangs weiter über die neue Metalltreppe ins „Glashaus“, eine leicht überdimensionierte und akustisch schlecht abgeschirmte Glaskuppel, die seit der Totalrenovierung von 1998–2001 das Dach des Großen Hauses krönt. Einige Jahre lang befand sich hier das Theaterrestaurant Mollers, und der Berichterstatter erinnert sich noch mit Schrecken, wie die Geräuschkulisse einer ausgelassenen Feier sich von dort über die letzten ersterbenden Takte von Debussys „Pellèas“ legte – „Mainz, wie es singt und lacht“ eben, nicht nur in der Fassenacht, sondern auch im Alltag. Mittlerweile dient die Kuppel als Studiobühne und Probenraum für das Ballett.

Den Weg nach oben heute säumen inzwischen auch Sänger aus dem Theaterensemble mit Ausschnitten aus Cages „Songbook“. Musikalisch ist das kein großer Unterschied, optisch aber schon, denn die Köpfe sind mit bizarren durchsichtigen Verkleidungen verziert, die an Außerirdische oder an Figurinen Oskar Schlemmers erinnern. Im „Glashaus“ selbst bietet sich noch kein Blick auf die Sterne, denn die Fenster sind mit schwarzem Tuch verhängt. Dafür ist die Bühne für Mauricio Kagels „Pas de Cinq“ als fünfstrahliger Stern gestaltet. Untergliedert in verschiedene Segmente mit verschiedener Bodenbeschaffenheit und leicht erhöht in der Mitte, bildet er das Spielfeld für die fünf „Außerirdischen“, die sich mit Spazierstock unterm Arm am Ende der fünf Strahlen positionieren. Verarntwortlich für die Bühne zeichnet Christian Thurm, für die Kostüme Birgit Kellner, für die künstlerische Gesamtleitung Anselm Dalferth.

Während die Darsteller sich entlang der vorgebenen Linien bewegen, ergeben sich aus den Geräuschen des Stockes und den unter die Schuhe genagelten Metallplättchen die vom Komponisten vorgeschriebenen rhythmischen Muster. Der Witz des Stückes resultiert daraus, wie sich die Bewohner dieses Miniatursterns auf ihrer Entdeckungsreise bewegen und begegnen. Über eine Viertelstunde hinweg entstehen immer wieder Szenen von subtiler Komik. Manchmal münden sie in einen gemeinsamen erleichterten Seufzer, wenn nach überstandenden Verwicklungen die fünf Zacken wieder ordentlich besetzt sind.Nach einer Viertelstunde verlassen die Darsteller das Feld und ziehen die Vorhänge zur Seite. Der Nachthimmel ist noch immer bedeckt, aber es ergibt sich ein beeindruckender Blick über die Dächer von Mainz vom Dom über St. Stephan bis zur Anhöhe des Kästrich. Weit unten Ferne im Foyer spielt ein Klavier John Cages Klavierstück „Dream“. Danach ist Stille.

Erklingt gerade Cages Schwiegestück „4‘33“? Wenn ja, dann besteht das Höreignis nicht nur aus einzelnen leisen Geräuschen und dem Elf-Uhr-Läuten des Doms, sondern auch aus dem Nachhall des Gehörten, und es weitet sich zum Seh-Ereignis. So kommt man ins Meditieren darüber, ob die Mainzer Innenstadt an dieser architektonisch und historisch sensiblen Stelle wirklich eine überdimensionale Shopping Mall braucht, und was man überhaupt in Innenstädten alles anstellen kann außer Fastnacht-Feiern und Konsumieren.

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