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Rasendes Leben: „The Rage of life“ von Igor Bauersima und Elena Kats-Chernin in Antwerpen

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Helena verschwand und bleibt unauffindbar. Verschollen im Dickicht der Großstadt. Ist sie aus eigenem Antrieb für immer abgetaucht oder gar aus dem Leben geschieden, wie Leifs Eltern tröstlich mutmaßen? Warum aber spurlos? Das fügt sich nicht ins vorherrschende Muster des Selbstmords von Jugendlichen (wahrscheinlich fortdauernd die häufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen).

In diesem besonderen Fall scheint ein Suizid ganz und gar nicht zum Naturell der jungen Frau zu passen, die in einer Bar mit prominenter Kundschaft kellnerte. Wurde sie aus dem Weg geschafft oder wird sie irgendwo versteckt gehalten? Der Verehrer Leif will und kann nicht glauben, was ihm suggeriert wird. Er begibt sich, verhalten wütend, auf die Suche. Am Kanalufer in einem verrotteten Industrie-Areal trifft er sie – und sie offenbart ihm: Weil sie beim Job von einer hochrangigen Korruptionsaffäre Wind bekam, in die auch Leifs Vater verwickelt ist, mußte sie sich verkrümeln. Und verschwindet auch jetzt wieder unauffällig.

Der Plot nimmt abenteuerliche Züge an: Der zornig-verzweifelte junge Mann wird von seinen Eltern mit Hilfe eines „Freundes“ aus dem Verkehr gezogen – per fürsorgliche Ingewahrsamnahme in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie verfrachtet. Von dort bricht er gewaltsam aus und auf, als Helena ihn besucht (eine Pflegerin und der behandelnde Arzt müssen dran glauben). Er sucht ein neues Leben – gemeinsam mit Helena. Die beiden entkommen fürs erste den staatlichen Sicherheits- und Ordnungskräften, fallen aber süchtig-räuberischen Asozialen in die Hände. Doch selbst deren manische Gewalttätigkeit überleben sie noch einmal.

Mit Verschwindenmüssen und Migration haben die beiden Autoren des Werks intensive Erfahrung. Die aus Usbekistan stammende, 1975 aus Moskau nach Australien emigrierte und 1981 in die Bundesrepublik gekommene Komponistin Kats-Chernin dürfte mit den politökonomischen Strukturen, auf die Bauersimas Text anspielt, seit Kindertagen vertraut sein (entsprechend positiv reagierte sie auf ihn). Die Familie Bauersima floh, wie de vlaamse opera mitteilte, 1968 „naar Zwitscherland“ (womit nicht ein Reich des unendlichen Parlando und unerschöpflichen Geplauders, sondern die oft wortkarge Schweiz gemeint ist).

Elena Kats-Chernin erscheint als die legitimste Erbin Kurt Weills. Dessen Song-Ton schreibt sie fort, bindet ihn aber phantasiereich ein in den Drive von Minimal music und die höhnische Süßlichkeit abgehalfterter Operetten-Melodien, in solide Ordnungsmuster der vormozartschen Musik und einzelne Reizpartikel aus dem Fundus der Neuen Musik. Die Melange ergibt theatermusikgewitze Nummern, die von ausgewählten Mitgliedern des Flämischen Opernorchesters hoch konzentriert absolviert werden. Die Sitzordnung in der halb-alternativen Spielstätte sorgt für Breitwand-Sound: Links im Blickfeld die stattliche Batterie, rechts das Kammerorchester, das zunächst ruhige Melodielinien zum Geklöppel vom andern Ufer beisteuert.

In der Mitte eine schlichte Projektionsfläche, auf der sich die Orte der Handlung in Sekundenbruchteilen via Projektoren aufbauen (Wohnzimmer- und Küchenansichten einer geschniegelten und gebügelten Lebenswelt, Klinik-Interieur und Fluchtorte im verlassenen Industrie-Areal). Und ein Durchschlupf findet sich in dieser Fläche, der kleine realistische Handlungsmomente in der virtuellen Welt ermöglicht.

Suizid ist zwar, wie erwähnt, bei Jugendlichen eine relativ beliebte Option zur unmittelbaren Lösung übermächtiger Problem. Doch erweist sie sich bedauerlicherweise als äußerst dauerhaft. Der Autor Igor Bauersima bietet am Ende des Stücks diesen letzten Ausweg aus äußerster Bedrängnis als Regisseur in Form eines (auch metaphorisch zu sehenden) Sprungs in den Brunnen an, allerdings ohne alles Moralin – mit einer ironischem Volte: Die schlichte Projektionswand stürzt – batsch! – den Zuschauern entgegen und landet nur wenige Zentimeter vor den Nasen in der ersten Reihe. Der Sprung des unsterblichen Liebespaares führt nicht ins Leichenschauhaus, wie die Video-Einblendung zunächst vermuten läßt, sondern in ein (ironisch gefärbtes) Fantasy-Paradies. Dessen Bäume, Sträucher und Papptiere klappten sich auf wie einst die besonders schönen Kinderbücher für Ali Baba und andere Räuberpistolen.

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