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„Giovanni. Eine Passion“ an der Neuköllner Oper. Foto: Neuköllner Oper/Andreas Altenhof
„Giovanni. Eine Passion“ an der Neuköllner Oper. Foto: Neuköllner Oper/Andreas Altenhof
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Respektlos-kreatives Experiment zwischen Musik- und Sprech­theater: „Giovanni – eine Passion“ an der Neuköllner Oper

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Neben dem Terzett der Berliner Opernhäuser gibt es seit 1977 eine freie Operntruppe mit wech­selnden, seit 1988 mit fester Spielstätte im Ballsaal der Passage Neukölln – die Neu­köllner Oper. Ihr Name ist Programm, Neukölln ist der Stadtteil Berlins, in dem 160 Natio­nalitäten in drei Generationen neben- und miteinander leben. Längst ist die Neuköll­ner Oper - eine von der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten geförderte, Instanz für Musiktheater jenseits des Üblichen geworden. Am 10. Oktober hatte die jüngste Produktion Premiere: „Giovanni. Eine Passion“.

Zu den Klängen einer Passionsmusik wird das Publikum durch ein Spalier aller Darsteller, Sänger wie Musiker des „Stegreiforchesters“, in einen schwarz ausgekleideten Saal geleitet, der mit frischer Erde be­streut ist. In der Mitte ein quadratisches Podest, auf dem ein Teil des Publikums platznehmen wird. An zwei gegenüberliegenden Wänden, Altar und Grab, Devo­tionalien, Kerzen, Toten­blumen. Es ist eine spanisch anmutende Totenfeier, die Ulrike Schwab in der Ausstattung von Pia Dederichs und  Marina Stefan  inszeniert hat, ein gruftig-sinnliches Ritual, das um den Mythos Don Juan kreist und - sehr frei - die Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart aufgreift.

Grundidee der Produktion von Bernhard Glocksin, dem Leiter der Neuköllner Oper, ist die fiktive Vorstellung, man käme einmal im Jahr zu Don Giovannis Totenfeier. Spanische und lateinamerikanische Bräuche haben ihn dazu inspiriert, vor allem der „día de los muertos“, der Tag der Toten. Bei uns heißt er Allerseelen. Im spani­schen und im lateinamerikanischen wird dieser Tag mit großer Inbrunst gefeiert. Inbrünstig zelebrieren denn auch 16 Instrumentalisten des Stegreiforchesters und 6 Sänger gemein­sam auf der Bühne eine Don-Giovanni-Totenfeier, indem sie immer wieder in neue Masken und Rollen schlüpfen, singen, tanzen, sprechen.

Vor vier Jahren hat Juri de Marco, klassischer Orchestermusiker, das mittlerweile aus bis zu 30 Musikern bestehende Stegreiforchester gegründet, das seither mit einer Mischung aus Klassischer Musik, Jazz, Klezmer, Blues, Rock, Weltmusik und improvisierten Passagen international auf Tour geht. Man spielt ohne Noten, ohne Dirigent, ohne Stühle. Das schafft Raum für Bewegung, Improvisation und Spiel. Das passt zum Profil der Neuköllner Oper.

Die Auseinandersetzung mit Mozarts „Don Giovanni“ ist die erste Musiktheaterproduktion des Ste­greiforchesters, das sich aus instrumentalistisch, schauspielerisch und sängerisch vielseitig begabten jungen Musikern rekrutiert, die sich mit Neugier, Experimentierfreude und Unvoreingenommenheit Mozarts Oper annähern. Man hat die Oper gekürzt, größtenteils neu arrangiert, uminstrumentiert, mit anderen Musiken des Komponisten angereichert, wie etwa Passagen aus seinem Requiem, mit Technoelementen, Groove und traditioneller Volksmusik angereichert, vor allem aber mit spanischer wie beispielsweise dem Flamenco. Das Ungewöhnliche: Jeder Orchestermusiker tritt quasi als Darsteller auf, jeder hat mindestens einen kleinen Satz  zu sagen oder zu singen. Es gibt aber auch viele chorische Stellen, beispielsweise wird die Champagnerarie vom kompletten Stegreiforchester gesungen.

Aber auch sonst werden immer wieder Arien in Fünfer-Gruppen aufgeteilt, das heißt, plötzlich singen fünf Darsteller den Don Giovanni, oder auch Donna Anna. Gelegentlich singt das ganze Ensemble gemeinsam und setzt sich musizierend, singend und spielend mit Mozarts Partitur auseinender, schlüpft in immer neue Rollen, um den Mythos, den Archetyp Giovanni zu erfahren, und damit etwas Neues von sich selbst. Die Geschichte von Don Giovanni , die jeder kennt, sollte nicht noch einmal eins zu eins nacherzählt werden.

Szenisch ist diese Don Giovanni „Passion“ ein performatives Experiment zwischen Musik- und Sprech­theater: Es geht um Sinnsuche und Triebhaftigkeit, Leben und Tod, eine unkonventionelle Mischung aus Totenfeier und Karnevalstaumel, Prozession und Stierkampf, Brauchtum und Oper. Eine starke, immer wieder auch traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellende Auseinander­setzung mit dem  Assoziationsraum „Don Giovanni“. Die Aufführung ist szenisch eine Gratwan­derung zwischen Mitmachtheater und szeni­schem Happening. Musikalisch ist sie eine Reise durch verschiedenste Zeiten und Stile. Sogar Funk-, Techno und Jazzanleihen gibt es. Sampler und Syn­thesizer werden eingesetzt.  Immer wieder Tanzmusik, bei der auch das Publikum eingeladen wird, auf einer Spielfläche mitzutanzen, die weder Bühne noch Orchestergraben kennt und auch nicht die strikte Trennung von Zuschauerareal und Spielfläche. Alles durchdringt sich. Ein Erfahrungsraum.

Die Instrumentalisten und Sänger (Hrund Ósk Árnadóttir, Daniel Arnaldos, Derva Atakan, Thomas Florio, Enrico Wenzel und Justus Wicken), die mal in Männer-, mal in Frauenkleidern auftreten, wagen viel, gehen an ihre Grenzen, gelegentlich überschreiten sie ihre Möglichkeiten, zugegeben. Sie verausgaben sich jenseits von purem Schönklang und edler Gesangskultur, aber mit ehrlicher Lei­denschaft. Wer eine traditionelle Aufführung von Mozarts Oper in Neukölln erwartet, wird womöglich enttäuscht sein von dieser Produktion. Doch für das Publikum der Neuköllner Oper, das eher selten in die drei staatlichen Berliner Opernhäuser geht, ist diese respektlos-kreative, barrierelose Expedition in die Alchemie des Mythos Don Juan und den Zauber der Mozartoper – aus dem Hier und Heute und jenseits elitärer hochkultureller Ansprüche – eine animierende Annäherung an ein geradezu prome­theisches Opern-Denkmal. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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