Hauptbild
Schorsch Kamerun. Foto: Sandra Then-Friedrich
Schorsch Kamerun. Foto: Sandra Then-Friedrich
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Schmale Reichweite tiefer Gedanken: Schorsch Kamerun beim Kunstfest Weimar

Publikationsdatum
Body

„Wem gehört welch' Land?“ Die von Schorsch Kamerun in seinem Konzertabend beim Kunstfest Weimar erhobene Frage ist berechtigt. Der Autor und Theatermacher agiert zwar etwas weniger pathetisch, aber ähnlich verworren wie Richard Wagner. Die Uraufführung am Freitagabend im Deutschen Nationaltheater wurde zur Anthologie vieler Fragen und ausbleibender Antworten. Verlautbarungen mit Lücken an einem Ort, der diese Lücken halbwegs mit Sinn füllt.

Das Festwiesen-Finale aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ als metaphorischer Überwurf für Befindlichkeiten vor der Bundestagswahl 2021... Das ist viel zu einfach, um wahr zu sein. Richard Wagners Schusterpoet Hans Sachs – ja genau, der mit der politisch bedenklichen Schlussansprache – bleibt in neueren Inszenierungen oft allein, wenn nach Wagners Willen schlichte Chormassen dessen nach heutigem Verständnis rechtskonservative, aber subtile Kulturvision im schreienden Unisono-Ruf zu „German Artists First“ vereinfachen. Ein anderer Chor-Hit dieser (noch immer) deutschen Nationaloper heißt „Prügelfuge“. Das alles wird als bekannt vorausgesetzt und deshalb nicht erwähnt. 

Trotzdem ist die Uraufführung des Konzertabends „Wem gehört welch’ Land?“, in dem die Wagner-Splitter rein gar nichts zur Gegenwartserklärung beitragen können, von berührender Ehrlichkeit. Was der in seinen Inszenierungen und Texten immer anspruchsvolle Schorsch Kamerun mit einem über-spartlichem Ensemble auf der Bühne des DNT zusammenstöpseln konnte, passt in seiner Ratlosigkeit bestens zu „Deutschland im Frühherbst 2021“. Es gibt anrührende Momente von Erzähltheater, wenn Anke Stelling über die letzten Tagen eines mit ihr verwandten Senioren-Ehepaars rezitiert. Es gibt – unverstanden vom infolge Hygienekonzept schmal besetztem Zuschauerraum – ein fast parodistisches Monolog-Pasticcio der Mezzospranistin Iphigenie Worbes mit den wichtigsten Wagner-Klangfloskeln und es gibt vom grazil-herben Gesamtleiter Schorsch Kamerun einige Macho-und-Macht-Seitenhiebe, wenn er sich mit dem US-Diensthemd das Prädikat „Sexy Jeans Cop“ anheftet. Da wurde noch geschmunzelt.

Aber dieses Schmunzeln gefriert in der folgenden Stunde. Die musikalisch feinsten Stellen kommen gegen Schluss, wenn Kamerun seine Reißnagel-Stimme im Pianissimo zum Einsatz bringt und dazu nur Wagners Lieblingsinstrument (an der Tuba: Maximilian Wagner-Shibata) als einziges von einem 116 Personen-Orchester auf der Bühne ist. So tötet ein Bodensatz in Basslage den symphonischen Stimmpluralismus – Christoph Ritter modelliert am Klavier dazu minimalistische Begleitfiguren.

Video-Übertragungen auf den Theaterplatz zeigen die Schauspielerin Annemaaike Bakker im Kaktus-Overall bei der so gut wie erfolglosen Suche nach vernünftigen Stimmen, Fragen, Meinungen. Der inhaltliche, thematische und symbolische Tiefgang der gesammelten Sprechtexte hat keine sinnfördernde Reichweite für die wenigen Meter von Bühne über den Orchestergraben ins Auditorium.

Das Kunstfest Weimar bewegt sich unter Rolf C. Hemke oft an Schnittstellen zwischen Diskurs, Dokumentation und künstlerischer Darstellung. In diesem Fall findet eine artifizielle Überhöhung durch den Schauplatz und Aufführungsort statt. Gebannt schaut man während des 90-Minuten-Programms auf die künstlerische Live-Schalte vom Theaterplatz und Aufzeichnungen von diesem aus der Vogelperspektive: Weimar als Spiegel gesamtdeutschen Alltags von seiner besseren Seite. Zeitgleich zur Kamerun-Premiere finden am Kasseturm und am Schillerkaufhaus Open-Air-Konzerte statt. Deren Interpreten blicken in ihren Texten emotional wie ökologisch mit tapfer zusammengebissenen Hoffnungszähnen nach vorn. Touristen und Studierende verzehren leckere goldbraune Pommes aus Styropor-Boxen. Die Kunstfest-Liegestühle und das Goethe-Schiller-Denkmal werden von einem bunten Publikum besetzt, das sich im Schatten der Weimarer Klassik-Heroen und dem Gründungsort der Weimarer Republik spürbar, hörbar, sichtbar wohlfühlt. Eine Männerstimme schmettert überwältigend inbrünstig einen spanischen Schlager in die menschenleere Schillerstraße und die Stufen zum Portikus des DNT sind, wenn kein Publikum strömt, eine der hochkulturellsten Skater-Rampen Europas.

Kameruns Gedankentopographie, die stellenweise sehr trübe, manchmal in der Attitüde pessimistisch wirkt und eine sicher ehrliche Bescheidenheit zur Pose dehnt, geriert sich als Kunstopposition gegen alle plärrigen Wahlergebnis-Prognosen und Parolen dieser Wochen. Einmal nehmen Ordnungshütende dem Geheimrat Goethe auf dem Denkmalsockel den Rotkreuz-Pflegekittel ab, welchen ihm ein subversiver Scherzkeks umgehängt hat. Es gibt sie also: Kulturereignisse, die mit schwer oder kaum Verständlichem eine Menge aussagen, weil das Management den schwarzrotgold-richtigen Riecher für den passenden Ort, den passenden Zeitpunkt und das passende Gesellschaftsklima vorausahnt. „Wem gehört welch’ Land?“ gehört zu ihnen – den Wahrheitshorizont mit rat- und rastloser Seele suchend. 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!