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In den Betten liegend v.l.n.r. Katharina Magiera (Hänsel) und Louise Alder (Gretel), mittig im Hintergrund stehend Elizabeth Reiter (Sandmännchen) sowie die Statisterie der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus
In den Betten liegend v.l.n.r. Katharina Magiera (Hänsel) und Louise Alder (Gretel), mittig im Hintergrund stehend Elizabeth Reiter (Sandmännchen) sowie die Statisterie der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus
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Schrecklich intelligente Parabel – Hänsel und Gretel an der Frankfurter Oper

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Wie soll denn das heute auf der Bühne gehen: arme Besenbinderfamilie, ein zerbrochener Milchtopf, Kinder allein im Wald (ohne Handy und Netz!), Sandmännchen, Abendsegen und vierzehn Englein, dann auch noch Hexe im Wald … und am Ende Friede, Freude, Eierkuchen? Dem Team um Regisseur Keith Warner gelang an der Oper Frankfurt Erstaunliches.

In unserer Zeit, in der Kinder nicht getauft werden, keinen (oder schlechten) Religionsunterricht besuchen, kirchliche Kindereinrichtungen eine Horrorgeschichte haben und materielle Güter bzw. Erfolg der einzige Maßstab sind, eliminierte Keith Warner alle kirchlichen Bezüge im Werk. Alles ist oder scheint Theater, spielt gekonnt mit den Mitteln des Theaters und imaginiert mit den phantastischen Möglichkeiten des Theaters ein „So sollte es sein!“

Auf der schwarzen offenen Bühne steht in der Mitte ein knallbuntes kleines Marionettentheaterchen, links ein dazu passendes „Hexenhäuschen“. Nach wenigen Takten des Vorspiels nehmen sechs Kinder vor dem Theaterchen Platz und bekommen den gefährlichen Waldweg und die Heimkehr von zwei Kindern vorgespielt. Für ihren Applaus bedankt sich ein gefährlich aussehender Glatzkopf in gespenstischem schwarzem Outfit.

Dann weitet sich die kleine Szene fast bühnengroß in eine Dachmansarde, vielleicht ein Kinderheim, in dem sechs Kinder auf ihren einfachen Metallbetten häusliche Arbeiten verrichten – hier und fast durchweg wandelt sich Jason Southgates Bühne fabelhaft magisch. Zwei Kindern steht der Sinn eher nach Singen und Tanzen: Hänsel und Gretel. Die übergewichtige „Mutter“ ist ein Drachen, der „Vater“ eher ein gutmütiger Therapeut, der sich mit dem Besenhandwerk tarnt – und beide sind dem Alkohol herzlich zugetan. Zur Strafe hat die Mutter beide Kinder ins kleine Theaterkabuff gesperrt – und durch das in guter Lichtregie (John Bishop) bühnengroß verwandelte Schlüsselloch sehen die Geschwister einen ganzen Reigen besonderer Gestalten: Märchenzauberer, Rotkäppchen, die Automatenpuppe Olympia, Hase und Jäger, Richard Wagner, seine vier Kinder als Siegfried und Walküren – und wieder den gefährlichen schwarzen Mann. In einem Wald, dessen Bäume mit Buchstaben aus all diesen Geschichten bedeckt sind, schlafen sie zur schönsten Erfindung der Neuinszenierung ein.

Bis dahin erfreute der satt spätromantische Klang des Museumsorchesters unter GMD Sebastian Weigle. Der Gretel-Sopran des neuen Ensemblemitglieds Louise Alder strahlte, Katherina Magieras Hänsel konstrastierte prächtig, Heidi Melton war eine wuchtig gefährliche Mutter, Alejandro Marco-Buhrmester ein wohl tönender Vater. Nach der Pause betrat das Taumännchen im Kostüm einer neuen, adretten Heimleiterin die sauber hergerichtete Dachmansarde und zu ihrem Gesang begann die Uhr im Hintergrund rasant zu kreisen: Jahre flogen vorüber und Hänsel und Gretel betraten in Kostüm und Maske junger Erwachsener den Raum ihrer Kindheit, legten sich noch einmal amüsiert in ihre Betten – und träumten (wieder verjüngt nochmals, erstmals für das Publikum) den Alptraum von der Hexe, ihrer monströsen Küche im hereinfahrenden, jetzt großen Hexenhaus, der magisch traumhaft auftauchenden Kinderschar mit samt einem erlösenden Weihnachtsfest für alle … doch aus einer Riesentorte springt der zuvor zwischen Hexe und Magier herrlich changierende schwarze Mann des Vorspiels – von Peter Marsh geheimnisvoll gespielt und mit gewollt scharf-hellem Tenor gesungen.

Doch auch hier bietet Regisseur Warner einen schönen Schluss: der Vater hat zuvor schon den Fernseher ausgeschaltet und aus dem kleinen Hexenhäuschen überreicht Hänsel jeden Kind ein kleines Geschenk - ein Buch: Literatur als der choralhaft besungene „Nothelfer“. Zuvor aber, als Finale im Wald, war Warner und seinem Bühnenteam ein Bild gelungen, das man selbst als erwachsener Mensch aus dem Theater mitnimmt: zum Gesang eines lang bebarteten, viel „Wissen“ aus einer Mappe verstreuenden Sandmännchens fuhr eine Treppe herein – doch statt Engeln stiegen Johann Heinrich Pestalozzi, Bruno Bettelheim, Sigmund Freud, Ellen Key, Gustave Ador, Astrid Lindgren, Janusz Korczak, Erich Kästner, Albert Schweitzer, die Brüder Grimm, Melanie Klein und Charles Dickens herab - vierzehn „Nothelfer aller Kinder“, die man sich gerade in unseren Kriegtagen alltenthalben als traumhaft mächtige Helfer wünschen würde – unvergesslich! Humperdincks „Märchenspiel“ also nicht nur für „kleine“, sondern auch für erwachsene Besucher.

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