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Siegfried und Mime (Peter Svensson und Albrecht Kludszuweit) beim Spiel. Foto: Claudia Heysel
Siegfried und Mime (Peter Svensson und Albrecht Kludszuweit) beim Spiel. Foto: Claudia Heysel
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Spieler beim Spielen: Halbzeit beim Dessauer „Ring“ – trotz Hochwasser und Gegenwind

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Wagners „Ring“ gibt es in letzter Zeit an ungewöhnlich vielen Theatern zu erleben. Der Dessauer „Siegfried“ allerdings verdient besondere Beachtung – nicht nur, weil das Anhaltische Theater die Tetralogie von hinten begonnen hat und mit der letzten Aufführung der Saison nun in die Halbzeit gegangen ist, und nicht nur, weil das Theater am 28. Juni in einer symbolischen Aktion in der Stadt „verankert“ werden soll.

„Der Held“, schreibt der Dessauer Autor Andreas Hillger im lesenswerten „Siegfried“-Programmheft, „muss eine als ‚Quest’ bezeichnete Hauptaufgabe lösen, deren Inhalt und Konsequenzen sich oft erst mit dem Fortschritt des Spieles erschließen. Unterwegs begegnen ihm dabei nicht nur diverse Gegner, deren Fähigkeiten parallel zu seinen eigenen Erfahrungswerten zunehmen und im Fall des Sieges auf ihn übergehen können. Durch Tausch, Kauf oder Kampf erwirbt er zudem immer wirkungsmächtigere Gegenstände, ohne deren Hilfe sich der Weg zum Ziel kaum bewältigen lässt.“ Hillger beschreibt die typische Struktur eines Computer-Rollenspiels, und siehe da: Wagners Siegfried-Figur passt genau hinein.

Und so finden wir denn, wenn der weiße Vorhang vor André Bückers Inszenierung sich gelichtet hat, auf der Bühne in einem ziemlich vollgemüllten Zimmer zwei Männer, die völlig fixiert auf ihren Laptop-Bildschirm sind und leidenschaftlich den Rhythmus des Schmiedethemas in die Tastatur hacken: Siegfried (Peter Svensson) und Mime (Albrecht Kludszuweit). Hinter ihnen erstreckt sich eine Art überdimensionaler Dreiflügelaltar: In der Mitte eine kitschige Waldszene, wie sie einer alten „Siegfried“-Inszenierung entstammen könnte, auf der linken Seite eine bewegte Computer-Animation, auf der rechten Seite die technischen Daten des Spiels, in die sogar die Übertitelung von Wagners Libretto integriert ist.

Es bleibt nicht bei diesem Bild. Nach einer Weile erleben wir eine 3D-Animation der Wohnung, zu der das Zimmer gehört, es flimmern Computerdaten über die Leinwand, es werden Spielstände und Ausrüstungen eingeblendet (Siegfried gegen Mime oder Mime gegen Wotan). Auf der realen Bühne erscheinen reale Kuben und Tetraeder, die einer 3D-Animation entnommen sein könnten. Bühnenrolle und Bildschirmrolle vermischen sich. Als Wanderer tritt Wotan (Ulf Paulsen) ganz real in Mimes Behausung: Angewidert stochert er mit seinem Speer im herumliegenden Geschirr und Essensresten. Als Siegfried ihm im 3. Akt den Speer zerschlägt, stürzt Wotans Programm ab; „Error“ vermeldet der Bildschirm, und dann gibt es nur noch Siegfried und Brünnhilde (Iordanka Derilova), die am Ende in die staksend-roboterhafte Bewegung verfallen, die die Ästhetik der letztjährigen „Götterdämmerung“ geprägt hat.

Dem geglückten, geschickten Ineinander von Regie, Bühne (Jan Steigert), Projektionen (Frank Vetter, Michael Ott) und Kostümen (Suse Tobisch) ist ein ebenso spannender wie unterhaltsamer Wagner-Abend zu danken. Nicht nur gibt es immer wieder etwas Neues zu sehen. Die Computerspiel-Ästhetik erlaubt der Regie auch, ungeniert das Spielerische im „Siegfried“ zuzulassen und die Geschichte naiv, bildhaft und spontan wie ein Märchen zu erzählen. Das Weihevolle, das Raunende, das Germanentümelnde ist ganz draußen aus dieser Inszenierung, aber auch die Verkrampfungen und das Gesuchte des Regietheaters. Stattdessen beobachtet das Publikum Spieler beim Spielen – und kommt dabei durchaus ins Nachdenken darüber, wer hier welches Spiel treibt und warum.

Es darf auch gelacht werden – etwa wenn das Waldvögelein (Angelina Ruzzafante) sich bei Siegfrieds kläglichen Versuchen auf der Flöre spontan die Ohren zuhält oder wenn Siegfried bei Brünhildes Anblick höchst erstaunt ausruft „Dies ist kein Mann!“ Die szenische Entkrampfung trägt hörbar dazu bei, das Miteinander von Szene und Musik zu steigern. Subtil bringt die Anhaltische Philharmonie Dessau unter GMD Antony Hermus die Nuancen der Partitur zur Geltung: Die Stimmen der Sänger tragen ausgezeichnet, beeindruckend ist die gute Textartikulation. (Stefan Adam als Alberich, Dirk Aleschus als Fafner und Rita Kapfhammer als Erda sollen hier nicht verschwiegen werden.) Am Ende ist  sogar Siegfried und Brünnhildes langer, oft überlang wirkender Dialog ansprechend und spannend.

Neben dem theatralischen Gewinn und der beachtlichen künstlerischen Leistung ist auch der kulturelle Impuls nicht zu unterschätzen, den das Anhaltische Theater mit dieser Inszenierung setzt. Virtuelle Welt und Theater sind nämlich so weit nicht voneinander entfernt, wie die jeweiligen Macher glauben mögen. Ähnlich wie Richard Wagner bedienen sich auch die Entwickler von Computer-Spielen aus dem reichen Vorrat von Figuren und Symbolen von Menschheitsgeschichte und Mythologie und arbeiten mit an deren Fortschreibung. Selten gelingt es bislang dem Theater, an die Erfahrungen und Bedürfnisse der Spiele-Nutzer anzuknüpfen. Umgekehrt ist einige Ignoranz am Werk, wenn Autoren des jüngst abgeschlossenen Funkkollegs „Wirklichkeit 2.0 – Medienkultur im digitalen Zeitalter“ des Hessischen Rundfunks gegen das traditionelle Feuilleton polemisieren, ohne auch nur einen Gedanken an Berührungspunkte zu verwenden.

Dass die letzte „Siegfried“-Vorstellung der Saison überhaupt stattfinden konnte – wenn auch mit einer halben Stunde Verspätung –, war keine Selbstverständlichkeit. Inmitten der katastrophalen Hochwasserwelle an Elbe, Mulde und Saale kam die Stadt Dessau-Roßlau glimpflich davon. Aber die Umstände zeugten davon, dass bei aller Virtualität wir Menschen primär materielle Wesen in einer materiellen Welt sind. Gerade das Theater mit seinen real existierenden Akteuren ist geeignet, das zu zeigen. Durch Kino oder Computer lässt es sich nicht ersetzen. Für den 28. Juni hat das Anhaltische Theater Stadt und Region nun zu einer theatralischen Aktion aufgerufen: „Das anhaltische Theater Dessau ist eigentlich ein sehr stabiles Gebäude, das im Laufe seiner Existenz schon vielen Stürmen getrotzt hat. Nun aber droht ein rauer Wind, der aus Richtung Magdeburg weht, dieses Haus aus seine  Fundamenten zu reißen und wegzutragen. Dagegen hilft nur eins: Wir müssen unser Theater sichern, indem wir es noch fester in Dessau-Roßlau verankern. Deshalb wollen wir am 28. Juni ab 11.55 Uhr (...) Pflöcke einschlagen. Daran werden wir  Schnüre, Seile und Taue befestigen, die wir vom Dach und aus den Fenstern des Hauses herunterlassen. (...) Wir brauchen die Kraft aller Menschen, die dieses Haus und sein Ensemble in ihrer Stadt halten wollen.“

Man darf wohl fragen, welcher Furor die sachsen-anhaltinische Landesregierung in Magdeburg reitet, wenn sie für 2014 radikale Kürzungen im Kulturetat plant, die die Existenz der verbliebenen Theater und Orchester gefährden. Dies geschieht nur wenige Monate, nachdem der vom Landtag in Magdeburg eingesetzte Kulturkonvent das genaue Gegenteil, nämlich eine Erhöhung des Kultur-Etats, empfohlen hat. (Allein die Entmündigung des Landtags müsste jedem einzelnen Abgeordneten zu denken geben.) Der Bericht des Kulturkonvents dokumentiert, wie viele Theater und Orchester in den letzten 20 Jahren schon verschwunden sind, wie viel Arbeit die noch bestehenden Institutionen inzwischen in die Kinder- und Jugendarbeit investieren, und dass die Hochschulen im Bundesland „sich zu ausgesprochenen Magneten für den Zuzug junger Menschen entwickelt haben.“ Da scheint es also doch noch einen Gegentrend zu geben zu Bevölkerungsschwund und Abwanderung, Rückbau von Städten und Überalterung! Auf die stereotype und fantasielose Politiker-Frage „Können wir uns Kultur noch leisten?“ kann man also nur mit der Gegenfrage antworten: „Können wir uns leisten, keine Kultur zu haben?“
 

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