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Uraufführung von Vilallongas „Blancanieves” als Live-Film-Konzert

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Zu allen Zeiten gab es Künstler, die sich dem Fortschritt verschlossen, am Alten hingen und – sei es in der bildenden Kunst oder der Musik – sich schöpferisch so verhielten, als sei die jeweils neue Zeitepoche noch nicht angebrochen. In der Oper ist dafür Giles Swayne eines der eklatantesten Beispiele: der britische Komponist brachte im späten 20. Jahrhundert seine Überzeugung, über Mozart ginge es nicht hinaus, damit zum Ausdruck, dass er in dessen Stil komponierte und auch gleich noch die Fortsetzung des Figaro-Stoffes („La Nozze di Cherubino“).

Ein stringentes Fortschrittsdenken hat derartige Bestrebungen stets abgelehnt und in der Mitte des 20. Jahrhunderts jene Komponisten der zweiten Wiener Schule, die sich nicht den seriellen Prinzipien gefolgt waren (Schreker, Zemlinsky) negiert.

Von einem Gegenbeispiel ist zu berichten.

Die starke Beschäftigung mit dem Stummfilm – mit der Rekonstruktion der zugehörigen Partituren in Live – Aufführung einerseits, mit Kompositionen neuer Filmmusik-Partituren zu den alten cineastischen Kunstwerken andererseits – hatte zur Folge, dass sogar in den vergangenen zwei Dezennien sogar neue Stummfilme gedreht wurden.

Ein treffliches Beispiel dafür ist der mit zehn Goyas ausgezeichnete 104-minütige Streifen „Blancanieves“, den Pablo Berger 2012 als schwarz-weißen Stummfilm gedreht hat.

Dieses „Stummfilmmärchen nach den Brüdern Grimm“ erzählt von einem gefeierten Matador, der beim Stierkampf lebensgefährlich verletzt wird. Seine hochschwangere Frau stirbt bei der Geburt der Tochter, eine böse Krankenschwester ehelicht den gelähmten reichen Witwer, quält und betrügt ihn, während dessen Tochter bei einer alten Freundin ihrer Mutter aufwächst. Als auch diese stirbt, wird sie als Aschenbrödel in den Haushalt der Stiefmutter aufgenommen, darf ihren Vater aber nicht sehen. Sie widersetzt sich dem Gebot und lernt vom Vater die Regeln des Stierkampfes. Die Stiefmutter tötet den Gemahl und will auch die Tochter umbringen lassen, aber die Ertrinkende wird von einem Mitglied einer zwergwüchsigen Torero-Truppe gerettet. Die dann als Stierkämpferin gefeierte Analphabetin wird von ihrer Stiefmutter mit einem vergifteten Apfel außer Gefecht gesetzt. Dadurch gelähmt, muss die Untote aufgrund eines Knebelvertrages anschließend lebenslang als Jahrmarktsattraktion für Männer herhalten, die gegen ein geringes Entgelt versuchen dürfen, dieses Schneewittchen wach zu küssen.

Alfonso de Vilallonga hat dazu die Musik geschrieben, die im Auftrag der FilmPhilharmonie von Roman Gottwald für Sinfonieorchester und Flamenco-Ensemble arrangiert und in dieser Fassung im Konzerthaus Berlin erstmals aufgeführt wurde. Der Komponist spielt selbst Klavier, Akkordeon und Okulele, eine separat aufgestellte Combo produziert historischen Flamenco, mit Palo, Bulerìa und Seguiriya, interpretiert von Gitarrist, Gesangssolistin (Mariola Membrives ) und singender Säge (Katharina Micada). Der Dirigent klatscht selbst rhythmisch in die Hände, und das Orchester, mit Ausnahme der dazu spielenden Blechbläser, tut es ihm gleich. So schafft Alfonso de Vilallonga Kontraste zwischen intimen, traumhaften und tänzerischen Sequenzen und großen Emotionen rund um den spanischen Stierkampf und Flamencotanz.

Carmen und Zarzuela, Schneewittchen und die sieben Zwerge (die Attraktion einer Gruppe kleinwüchsiger Toreadors hat es in den zwanziger Jahren offenbar tatsächlich gegeben) mischen sich mit anderen Elementen aus der Sammlung der Brüder Grimm in einer nachempfundenen Bilderwelt der Zwanzigerjahre zwischen Tradition und Moderne.

Frank Strobel, Matador sinfonischer der Filmmusik, und inzwischen nicht nur Synchron-Superstar bei der Begleitung von Stummfilmen, sondern auch von Tonfilmen, denen die Musikspur in einem aufwändigen Verfahren entnommen wurde, auf dass sie neu und live erklingen können (so etwa bei „Iwan Grosny“), sorgt von Anfang an für theatralischen Charakter der Aufführung. Dazu trägt nicht nur bei, dass sich zu Beginn auf der Leinwand als einzige Farbprojektion ein roter Vorhang öffnet, sondern insbesondere bunte Luftballons, die an jedem Pult des bestens disponierten Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin hängen. Auch die Ballons erweisen sich im Laufe des Abends als Klangkörper, da diese aleatorisch zum Platzen gebracht werden, sobald in der Filmhandlung ein Feuerwerk zu erleben ist. Dass das Orchester insgesamt synchroner ist als die vor einem eigenen Bildschirm sitzende Combo, beweist wieder einmal die außergewöhnliche Qualität des Dirigenten.

Trefflich gestaltet ist auch das 32-seitige Programmheft, das angesichts der Einmaligkeit der jeweiligen RSO-Film-Aufführungen erfahrungsgemäß rasch zu einem gesuchten Kultobjekt im Antiquariatsmarkt wird. Im Programmheft wird der Bogen geschlagen zwischen den Zwanzigerjahren, dem Faschismus, Goebbels und Tendenzen des neuen Films.

Das Premierendatum, rund um das Thema Stier, war in den ersten Tagen dieses Sternzeichens gut gewählt: das Konzerthaus-Publikum zeigte sich verwundert über die Sanglichkeit und Harmonie eines lebenden Komponisten in einem zwar retrospektiv ausgerichteten, aber perfekt gemachten Kunstwerk. So war es nicht verwunderlich, dass eine Nummer der Filmmusik von Vilallonga für das begeisterte Publikum als Zugabe ohne Filmprojektion erneut erklingen musste.

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