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Hier spielt sich „attacca“ ab: das Theaterhaus Stuttgart. Foto: SWR/Theaterhaus Stuttgart
Hier spielt sich „attacca“ ab: das Theaterhaus Stuttgart. Foto: SWR/Theaterhaus Stuttgart
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Vom Wetten um die Gunst der Muse: das „attacca“-Festival des SWR im Stuttgarter Theaterhaus

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Es ist wohl der Groove und die würzige Kürze, die das etwas kryptisch nach einer Technoparty-Modedroge benannte Orchesterstück "GHB / tanzaggregat für Orchester" von Marko Nikodijevic beim „attacca“-Festival in der Beliebtheitsskala ganz nach oben switchen ließ. Das SWR-Eintagesfestival für Neue Musik, das am Samstag im Stuttgarter Theaterhaus stattfand, präsentierte dieses vitale Stück innerhalb des frühabendlichen Orchesterkonzerts des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart als eine der drei Uraufführungen. Es dirigierte Jonathan Stockhammer.

"GHB" hat dabei nichts mit dem regelmäßigen Bassgestampfe der Technomusik zu tun, sondern arbeitet sehr agil und subtil mit Rhythmen und Metren. Von Computertechnik und Dancebeats lässt sich der serbische, 1980 geborene Komponist inspirieren, verwendet auch Material aus bereits existierender Musik. Von der "Tonhöhen-Zelle am Anfang, die mit einem Fraktalalgorithmus den Tonhöhen-Vorrat durch Intervall-Multiplikation erzeugt", schreibt er im Programmheft. Was kompliziert klingt, hörte sich dann aber ganz einfach an: Fetzige Rhythmen, kleingliedriges Melos, alles steigert sich bis zur Ekstase. Und über allem liegt der Schein des Bekannten: Ein bisschen Ravel, Bernstein, Gershwin, Orient und Musical hört man heraus.

Abwechslung, Kontraste, Kurzweiligkeit

Der Schein des Bekannten lag auch auf Oliver Schnellers "WuXing / Metal", das zwar nicht in der Harmonik, aber im Gestus von der Spätromantik inspiriert scheint. Ziemlich monochrom und dick der Streichersound, dem immer wieder Bläsereinwürfe gegenübergestellt werden. Musik, die in sich kreist, sich weniger vorwärtsbewegt als langsam nach allen Seiten ausbreitet, dann verharrt. Schöne Musik, die dem Gedächtnis aber schon bald wieder entschwindet. Dennoch ergiebiger als Matthias Schneider-Holleks "betting on the muse", ein etwas pädagogisch wirkendes Werk, in dem gut 30 Orchestermusiker zur Improvisation aufgefordert sind. Animateure sind drei Laptop-Spieler und ein Instrumentalist, der unterschiedlichste Blasinstrumente spielt. Dirigent Stockhammer saß selbst am Laptop und tippte dort Befehle ein, die auf einem Monitor sichtbar wurden: "In 28 Sekunden beginnt die Violine mit einer kurzen Melodie", "der Kontrabass spielt tiefe Töne im pppppppp", "still bleiben und nur den Moment genießen". Das Ergebnis: Viel Klangflächen, viel Zeit, wenig Konstruktives – und nur eine Pseudo-Befreiung aus den Zwängen der Partitur.

Abwechslung, Kontraste, Kurzweiligkeit – auf dieses wohltuende Konzept baute Attacca in diesem Jahr. Für das Orchesterkonzert hieß das, dem aufwändig produzierten Klang Akkordeon-Solostücke gegenüberzustellen: Denis Patkovic spielte Adriana Hölszkys kompakt-komplexes "High way for one" von 2000 – ein hochvirtuoses wildes Stück, in dem der Spieler rasend schnell Cluster, Perkussives, explosiv schnelle Läufe und Doppeltriller bewältigen muss. Patkovic, ein Musiker-Darsteller, der hochangespannt, mit schmerzverzogenem Gesicht, zuckendem Körper sein Instrument attackierte, zog das Publikum auch in Keiko Haradas uraufgeführtem "Deadline für Akkordeon" in Bann, dem es gelingt, das kaum Hörbare ins Ekstatische zu überführen.

Tanztheater konzertant

Gestartet war Attacca nachmittags mit dem SWR Vokalensemble unter Leitung von Kaspars Putnins. Acht der "14 unbemalten Bilder" von Alvaro Carlevaro wurden konzertant uraufgeführt. Musik, die beim nächsten Stuttgarter Eclat-Festival im Februar einem Tanztheater als Folie dienen soll. Sie funktioniert aber auch ohne Choreographie recht gut. Rhythmisch und harmonisch komplexe Musik für 28 Stimmen, die sich ständig auffächert und sich neben dem gewöhnlichen Singen vor allem sämtlicher zeitgenössischer Vokal-Techniken wie Schnalzen, Flüstern, Atmen, Sprechen, Ploppen, Hauchen, Glissando bedient. Nicht alle Stücke sind von gleicher Qualität, aber in ihren besten Augenblicken entfaltet diese Musik ungeahnte räumliche Weiten oder lässt plastische Formen entstehen: etwa wenn die Stimmen durch Klanglandschaften gleiten, aufblühende Klangwolken hin und her wabern oder Klangsäulen sich aufrichten in einem Meer aus Wisperlauten. Exzellent, wie das Vokalensemble die Farben der Stimmen änderte, sie klingen ließ wie Instrumente oder gar elektronisch erzeugte Töne. Grandios!

Kurz ist gut

Eingerahmt und verbunden wurde Attacca durch 19 kurze A-cappella-Stücke von elf Komponisten. Die auch komödiantisch ambitionierten Stuttgarter Neuen Vocalsolisten führten sie größtenteils in den Pausen im Foyer des Theaterhauses als kleine Performances auf. Eine gute und unterhaltende Idee, die dem Festival eine klare Struktur und einen roten Faden verpasste. Keine Uraufführungen freilich, sondern eine Wiederholung des Großprojekts "Escalier du chant" des Künstlers Olaf Nicolai, mit dem die Neuen Vocalsolisten 2011 an zwölf Sonntagen die Treppe der Münchner Pinakothek der Moderne bespielt hatten. Inmitten des Publikumverkehrs sollten die Lieder auf aktuelle politische Ereignisse Bezug nehmen.

Dank der Vielzahl der beteiligten Komponisten ein abwechslungsreiches Unterfangen – mal pointiert witzig, mal zu lang, um pointiert zu sein. Die politischen Ambitionen gingen im Theaterhaus im allgemeinen Eventcharakter unter, die vertonten Texte waren meist kaum zu verstehen. Gerade die besonders kurzen und einfach strukturierten Liedchen entpuppten sich als die wirkungsvollsten: Mika Vainios "Purex" etwa, in dem drei Frauen lediglich verschachtelte Liegetöne zu singen haben. Oder Tony Conrads "Middle class", in dem sich die Vocalsolisten unters Sekt trinkende Volk mischten und dem einen oder der anderen "Do corporations hate the middle class?" ins Gesicht sangen. Zumindest visuell attraktiv auch die Performance "3 Angels + an Enigma" von Liza Lim. Die Komposition floss als lange Papierbahn die Treppe des Foyers hinunter, während vier Vocalsolisten zwischen Gesang und geräuschhaft artikulierten Emotionen changierten. Das zog sich ein bisschen in die Länge. Ebenso wie Enno Poppes eher langatmig-virtuose Solo-Stücke. Dafür setzte Elliott Sharps "Nakba Day" mit dreistimmigen Lala-Schreien einen schrillen und pointierten Festival-Schlusspunkt.
 

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